Kann Hochschulentwicklung Advent?
Ein Beitrag von Prof. Dr. Oliver Reis
Die Weihnachtszeit beginnt aus christlicher Sicht mit dem Advent. Früher war der Advent eine Fastenzeit, die der inneren und äußeren Vorbereitung auf die Geburt Jesu diente. Gott kommt in die Welt, wird im Advent (lat. advenire: hinzukommen) gefeiert. In der Fastenzeit sollen sich die Menschen leer machen, Raum schaffen, Erwartungen loslassen, sich im Perspektivwechsel auf fremde Erwartungen Bedürftiger einstellen. In diesem Sinne kehrt sich im Advent die Zeit um. Unsere Pläne und Vorhaben aus der Vergangenheit und Gegenwart kommen an ein Ende – auch wenn in der Umgebung alles im Modus Weiterso mit Vollgas läuft. Für die Christen verändert sich trotzdem im Erleben das Verhältnis zur Zukunft. Aus der normalen Struktur des Futurs, in der sich Zukunft aus den Prämissen und Potenzialen der Gegenwart entwickelt, wird ein Glauben, dass die Zukunft kommt.
Damit an Weihnachten eine neue Zeit anbrechen kann, muss die alte Zeit an ihr Ende kommen und die Zeit wirklich stillstehen. Das Neue ist noch nicht da, das Alte läge noch nahe, wäre dann doch das Naheliegende. Doch Weihnachten braucht diesen Moment der Kontingenz, der Nichtnotwendigkeit, in der alles Mögliche wirklich passieren kann. Gerade dann, wenn man wirklich eine Zeit vergehen lässt, ist diese Lücke schwer auszuhalten. Woher weiß man, dass die neue Zeit wirklich die Verheißungen einlöst? Und für wen? Im Advent sich zu öffnen heißt, die neue Gegenwart einem anderen Willen anzuvertrauen. Und das erfordert wirklich Mut. Die biblischen Texte erzählen diesen Bruch mit dem Naheliegenden so, dass der neue König am Rande des römischen Reiches einer unbedeutenden Stadt problematischen Zeugen offenbart wird. Wird mit dieser Krippe vor Hirten wirklich eine Zeitenwende eingeläutet? Verschiedene Gruppen dieser Zeit haben anderes mit der Zukunft vor.
Traum von der Zeitenwende
Auch die Hochschulentwicklung träumt von einer Zeitenwende im Lehren und Lernen, nur dass hier nicht der Herr erscheint, sondern eine Lehr-Lernform, in der agile, intrinsisch-motivierte, selbstorganisierte Studierende erfolgreich sind, die zu den modernen zeitlich flexiblen, individualisierten und digitalgestützten Lernumgebungen passen, die entworfen werden. In offenen, sozial-kommunikativen Lernumgebungen weichen fest implementierte Instruktionen bzw. liegen digitalisiert vor, um adaptiv in die projektbezogenen Lernprozesse eingespeist zu werden. Auch die Räume passen sich diesen Lernumgebungen an. Räume mit fester Bestuhlung in Reihen lösen sich zugunsten flexibler Raumnutzungskonzepte auf, die studentischen Gruppen für ihre Lernaufgaben zur Verfügung stehen.
Die Frage für mich ist, ob die Hochschulentwicklung Advent kann. Kann sie sich darauf einlassen, die Krise der gegenwärtigen Nach-Corona-Lehre dazu zu nutzen, sich frei zu machen und die Hochschule bisheriger Prägung vergehen zu lassen?
Prof. Dr. Oliver Reis auf der TURN Conference 2023
Die Aufzeichnung der Keynote „Offenheit und Mut auf dem Weg in die Zukunft von Lehre und Hochschule“ von Prof. Dr. Oliver Reis auf der TURN Conference 2023 finden Sie hier.
Hochschulen können anders sein
Die oben entfaltete Vision der Lehre einer neuen Zeit, in der Studierende für die gesellschaftlichen Herausforderungen einer unnachhaltigen Gesellschaft lernen, müsste eigentlich die Hochschule in ihren bisherigen Vollzügen selbst in Frage stellen. Die Hochschulen sind Teil des Problems einer insgesamt in ihrem Denken und Handeln unnachhaltigen Gesellschaft. Sie sind sicher nicht die Lösung. Aber schon dieser Satz setzt den Glauben voraus, dass die Kontingenz, die die Frage sichtbar macht, im Advent mit Verheißungen erfüllt wird. Es bräuchte wirklichen Mut, um die Hochschulen, die Strukturen, die sie halten, die inneren Verwaltungsprozesse der Kontingenz auszusetzen. Sie können anders sein.
Wer die obigen Verheißungen teilt, wird sie nicht im Futur der jetzigen Entwicklungsprozesse durch Steuerung erreichen. Wirkliche Offenheit, die mehr ist als Mehr vom Gleichen, bräuchte diesen Moment des Loslassens und sich Öffnens. Eine Fastenzeit für die Hochschulen als Vorbereitung auf eine andere Zeit. Kaum vorzustellen in dem Wahnsinn der immer weiter administrativ und strukturell aufgeheizten Prozesse an den Hochschulen auch zur Verbesserung der Lehre. Meistens wird in diesen kontingenzlos nur die bisherige defizitäre Steuerung mit neuen didaktischen Technologien optimiert.
Der Glaube an diese Reformen lebt noch und wird weiter gefördert. Selbst eingerichtete Freiräume für Studierende reagieren adaptiv und problemlösend auf eine Herausforderung. Das Problem, die Studierenden und die Ressourcen sind bekannt. Entscheidend ist die Erfolgswahrscheinlichkeit, das Lernen zu optimieren. Futur eben. Das Problem ist nur: Die Zeitenwende kommt auch so, gerade weil die Verheißungen nicht eingelöst werden und das alte System seine Schwächen – vor allem die Sinnlosigkeit der Vollzüge für eine wirkliche komplexe individuelle wie soziale Bildungsherausforderung – kaum noch kaschieren kann. Die Frage ist, ob wir dann auf diese vorbereitet sind.