Medizinethik kompetenzorientiert lehren
Ein Beitrag von Raika Selle
Wie geht man mit Alkoholkonsum im Pflegeheim um? Sollte eine Laborassistentin die Blutprobe ihres Nachbarn untersuchen dürfen? Und ist es vertretbar, als Sozialarbeiter einer in Not geratenen Familie aus privaten Mitteln Medikamente zu finanzieren? Dies ist nur eine Auswahl an Fällen, die die AG ethik learning in ihrer Toolbox für Ethik-Lehre bereitstellt. Hierbei handelt es sich um eine der Maßnahmen, die die Arbeitsgruppe im Rahmen ihres Projekts „KOMETH-Learn“ realisiert. Das Ziel, das sich hinter dieser Abkürzung verbirgt: Kompetenzorientierte Medizinethik-Lehre entwickeln, anwenden, reflektieren und nutzen. Neben der Toolbox gehören dazu auch eine Webinar-Reihe auf YouTube, ein Schulungskonzept sowie eine Buchpublikation für Lehr- und Übungszwecke.
Kompetenzen im Fokus
Mit der Kompetenzorientierung setze die Arbeitsgruppe einen klaren Schwerpunkt, berichtet Dr. Katja Kühlmeyer, Projektleiterin von „KOMETH-Learn“. „Meiner Wahrnehmung nach dominiert in diesem Bereich noch immer die Wissensvermittlung im klassischen Vorlesungsformat. Dabei wissen wir, dass Studierende viel besser lernen, wenn sie sich aktiv mit Problemen aus der Praxis beschäftigen, und dass sie das auch besser darauf vorbereitet, später im Berufsalltag ethisch reflektierte Entscheidungen zu treffen.“ Bei so vielen Studierenden gebe es aber oft zu wenig Ressourcen für Kleingruppenarbeit im Seminarformat. „Gerade dieser Austausch ist wichtig, denn er bietet Studierenden die Möglichkeit, selbst zu reflektieren, Argumente zu entwickeln und ihre Meinung im Verlauf eines Seminars zu konkretisieren, vielleicht sogar zu ändern“, sagt Projektleiter Dr. Tobias Eichinger. „Hier sehen wir einen großen Entwicklungsbedarf und genau da knüpfen wir an.“
Das Projekt
Das Projekt „KOMETH-Learn“ wird von April 2023 bis 2025 im Rahmen unserer Ausschreibung „Fokus Netzwerke“ gefördert. Das Ziel ist die Entwicklung kompetenzorientierter Angebote für Lehrende. Sie sollen dazu befähigt werden, kompetenzorientierte Unterrichtsformate zu konzipieren und neue didaktische Ansätze zu erproben. Das Projekt wird von der AG ethik learning realisiert, die Teil der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM), der Fachgesellschaft für ethische Fragen im Gesundheitswesen, ist.
Doch was sind eigentlich ethische Kompetenzen? Dieser Frage widmet sich die AG in einer Publikation zum Thema “Ethik-Didaktik in Gesundheitsberufen“. „Hier orientieren wir uns an einer Definition, die Kompetenz als personale Voraussetzung für die Problemlösung versteht“, erklärt Kühlmeyer. Im Kontext der Medizinethik gehe es um die Fähigkeit, ethische Problemstellungen zu erkennen und zu bearbeiten – also Situationen, in denen handlungsleitende Normen, Werte und Prinzipien durch ein kritisches Ereignis hinterfragt werden. Von diesem Verständnis ausgehend ließen sich ethische Teilkompetenzen und Lernziele definieren – etwa das Wissen über Berufsnormen, die Entwicklung ethischer Sensibilität sowie die Fähigkeit, eine eigene Haltung einzunehmen und ein Urteil zu fällen. Diese Kompetenzfelder zusammenzutragen und zu schematisieren, ist eines der Ziele der Arbeitsgruppe. „Wir müssen es schaffen, Studierende für Ethik zu motivieren – gerade, weil sie oft nur am Rande unterrichtet wird“, so Eichinger. Der Schlüssel dafür liege in guter Lehre, die die Relevanz und den Anwendungsbezug deutlich macht.
Neue Tools entwickelt
Einige Ideen konnte die AG bereits umsetzen: Eine eigene Website ist online, das Schulungskonzept steht und auch die Webinar-Reihe läuft seit einigen Semestern. Zur Unterrichtsvorbereitung wird eine Toolbox mit Beispielfällen und Konzepten für Lehreinheiten bereitgestellt, die über die Website zugänglich ist und laufend erweitert wird. Parallel arbeitet eine Herausgebergruppe mit weiteren Autorinnen und Autoren an der Publikation, die nach Fertigstellung frei zugänglich erscheinen soll. Obwohl Ethik in der Medizin zu den Pflichtfächern zählt und auch in anderen Bereichen wie der Pflege fest verankert ist, gebe es bislang nur wenig systematisch aufbereitete Lehrmaterialien und Literatur. „Wir wollen das, was wir erarbeiten, mit anderen teilen, damit auch sie davon profitieren und darauf aufbauen können“, berichtet Eichinger. „KOMETH-Learn“ verfolge das Ziel, die Ethik-Lehre wissenschaftlich besser zu erschließen – und das gehe am besten gemeinschaftlich.
Der Wert des Netzwerks
Neben den bereits realisierten Maßnahmen sei vor allem die Erweiterung der Arbeitsgruppe ein großer Erfolg. „Mittlerweile sind wir über die Medizin hinaus in viele weitere Fächer hineingewachsen“, so Eichinger. Denn nicht nur die im Studium angestrebten Berufe unterscheiden sich, sondern auch die fachlichen Hintergründe der Lehrenden. „Manchmal ist es ja so, dass man gar nicht in der Berufsgruppe sozialisiert ist, in der man unterrichtet. In so einem Fall ist es wahnsinnig hilfreich, wenn die Kolleginnen und Kollegen einem ein bisschen unter die Arme greifen“, berichtet Projektleiterin Kühlmeyer. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit helfe, den eigenen Blick zu erweitern und ein Gefühl für fach- und standortübergreifende Gemeinsamkeiten und Herausforderungen zu bekommen. Damit sei das Netzwerk hinter „KOMETH-Learn“ für alle Beteiligten eine „Community of Practice“, die Raum für Orientierung und Austausch biete – auch über Unsicherheiten.
Fokus Netzwerke
Im Rahmen der Förderung „Fokus Netzwerke. Stärkung von Netzwerken als innovationsbefördernde Akteure“ werden von 2023 bis 2026 lehrbezogene Netzwerke gefördert. Die 22 Netzwerke haben mehrere wichtige Funktionen als Ergänzung hochschulischer Strukturen. Sie stützen Einzelpersonen in ihrer Motivation, Themen voranzubringen und befördern Austausch und Zusammenarbeit über Hochschulgrenzen hinweg.
Die Bedeutung von Netzwerken für die Entwicklung, Verbreitung und Implementation von Lehrinnovationen wird auch in der Forschung sichtbar. Tobias Jenert, Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität Paderborn mit dem Schwerpunkt Hochschuldidaktik und -entwicklung, hat bereits zu diesem Thema geforscht und betont den Mehrwert lehrbezogener Netzwerke: „Sich mit innovativer Lehre zu beschäftigen, gehört nicht unbedingt zu den Standardaufgaben von Hochschullehrenden. Daher ist es wichtig, themenbezogen informelle Ansprechpartner:innen zu haben, um sich über die Gestaltung von Lehre auszutauschen.“ Die Interdisziplinarität von Netzwerken wie der AG ethik learning werde oft als Bereicherung empfunden. So auch von Kühlmeyer und Eichinger, die den Erfolg ihres Projektes maßgeblich auf dessen Netzwerkcharakter zurückführen.
„Zugleich zeigt unsere Forschung, dass Unterschiede zwischen Disziplinen oft zu schwer überwindbaren Verständigungs- und Transferhürden führen können, welche die Netzwerkarbeit behindern. Interdisziplinäre Netzwerke benötigen daher spezielle Formate, um sich über fachliche Besonderheiten verständigen und Hürden überwinden zu können“, so Jenert. Dafür brauche es einen stabilen Kern an Personen, die Zeit und Arbeit investieren, um das Netzwerk langfristig aufrecht zu erhalten.
Eine Anlaufstelle für die Ethik-Lehre
Das Projekt „KOMETH-Learn“ geht auch nach Ende der Förderung weiter. „Unsere Publikation ist noch in Arbeit, die möchten wir fertigstellen“, so Kühlmeyer. Das Schulungskonzept, das mithilfe der Fördergelder entwickelt wurde, soll realisiert und in der Praxis erprobt werden. Neben der Finalisierung der laufenden Maßnahmen sei den Beteiligten vor allem daran gelegen, „KOMETH-Learn“ am Laufen zu halten und das dahinterstehende Netzwerk weiter auszubauen, erklärt Eichinger: „Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, unser Projekt in gute Strukturen zu überführen.“ Bisher sei die Arbeit der AG gut angenommen worden, so Kühlmeyer. „Wir hoffen, dass es so weitergeht, denn wir können eine wertvolle Anlaufstelle für viele Lehrende sein“.
Zu den Personen
Dr. Katja Kühlmeyer
Katja Kühlmeyer ist Psychologin, Medizinethikerin und als Akademische Rätin am Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin an der LMU München tätig. Neben Forschung und Lehre ist sie Koordinatorin der AG ethik learning und leitet das Projekt „KOMETH-Learn“.
Dr. Tobias Eichinger
Tobias Eichinger ist Koordinator des Lehr- und PhD-Programms am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. Neben seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit ist er Gründer der AG ethik learning und leitet das Projekt „KOMETH-Learn“.
Prof. Dr. Tobias Jenert
Tobias Jenert ist Professor für Wirtschaftspädagogik mit dem Schwerpunkt Hochschuldidaktik und -entwicklung an der Universität Paderborn. Zudem war er als Jurymitglied für unsere Förderungen „Fokus Portale“ und „Fokus Netzwerke“ sowie in der wissenschaftlichen Begleitung des Lehrentwicklungsprogramms Lehre^n aktiv.
Zum Weiterlesen
Heidebrecht, J., & Sloane, H. S. (2024). “So was gibt es bei uns nicht!” – Fachkultur als Treiber oder Barriere für Transfer von digitalen (Lehr-)Innovationen. die hochschullehre, 10, 225–235. https://www.wbv.de/shop/Transformationen.-Forschende-und-strategische-Perspektiven-auf-eine-postdigitale-Hochschullehre-HSLT2402W
Jenert, T., & Sänger, N. (2020). Studien- und Lehrentwicklung als Überwindung institutioneller Grenzziehungen. Eine Netzwerktheoretische Betrachtung. In Toepfer Stiftung gGmbH (Ed.), LERNEN im Hochschulzusammenhang (pp. 208–225).
Jenert, T., & Bosse, E. (2021). Lehrentwicklung an Hochschulen als transferorientierte Netzwerkarbeit: Das Bündnis für Hochschullehre Lehren. In Transfer von Innovation und Wissen. Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-33667-7_15
Zur Autorin
Raika Selle
Raika Selle ist Volontärin im Team Kommunikation der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.