Plattform zeigt Barrieren in der Lehre
Ein Beitrag von Raika Selle
Bänke, Klapptische, Studierende vor Laptops. Es ist ein vertrautes Setting, das Lehrende beim Besuch der Plattform „BlindDate“ erwartet. Über die Startseite betritt man einen virtuellen Hörsaal. Die acht Studierenden, die sich über die Reihen verteilen, verbindet vor allem eines: Sie studieren mit einer Beeinträchtigung. Da wäre zum Beispiel die 19-jährige Michelle. Sie studiert Popmusikdesign und hat eine chronische Erkrankung, Morbus Crohn. Oder Gabriel, der Soziale Arbeit studiert und mit einer Sehbeeinträchtigung, einem Glaukom, diagnostiziert wurde. Als virtuelle Begegnungsplattform nimmt „BlindDate“ die Besucher:innen mit in das Leben dieser Studierenden. Wer sich auf eine solche Begegnung einlässt, erfährt mehr als nur ein paar Eckdaten. Jede Persona – eine fiktive Figur als Stellvertreterin einer bestimmten Zielgruppe – hat ihren eigenen Bereich, in dem sie ihre Geschichte erzählt und Einblicke in ihr Leben mit Beeinträchtigung gibt. Statt ausschweifender Texte finden sich hier interaktive Elemente wie Steckbriefe, Videos, vertonte Sprechblasen und Simulationen.
„Diese Personas haben wir uns nicht ausgedacht“, berichtet Ann-Katrin Böhm, Sonderpädagogin und Mitarbeiterin im Projekt. „Wir haben zu Beginn eine große Bedarfserhebung gemacht und dabei sowohl quantitativ als auch qualitativ geforscht, zum Beispiel mithilfe von Fragebögen und Interviews.“ Ziel der Befragung war es, herauszufinden, welchen Barrieren und damit verbundenen Vorurteilen Studierende im Alltag begegnen und wie diese abgebaut werden könnten. Gleichzeitig berichteten Lehrende, wie gut sie über Barrierefreiheit informiert sind und welche Hilfen sie benötigen, um ihre Lehre barriereärmer zu gestalten. „Die Personas beruhen dementsprechend auf realen Erfahrungen von Studierenden und wurden so aufbereitet, dass sie die Fragen der Lehrenden bestmöglich beantworten“, sagt Böhm.
Auch im kreativen Prozess habe das Team vollen Einsatz gezeigt, erzählt Projekt-Mitarbeiterin Patricia Piskorek: „In ‚BlindDate‘ ist wirklich alles selbst gemacht, von den Grafiken über die Texte bis hin zu den Audio-Aufnahmen. Das hat sehr viel Spaß gemacht.“ Damit reagiert das Projektteam auf ein verbreitetes Vorurteil: „Viele denken bei Barrierefreiheit direkt an schwarzen Text auf weißem Untergrund, ohne jede Ästhetik. Unsere Plattform zeigt, dass Barrierefreiheit auch ansprechend und liebevoll gestaltet sein kann.“
Hinweis
Die Verwendung von Personas kann in diesem Kontext als stigmatisierend empfunden werden, da sie nicht das gesamte Spektrum an Beeinträchtigungen abbilden. Das Projektteam betont, dass „BlindDate“ keine vollständige Repräsentanz beansprucht, sondern einen niedrigschwelligen Zu-gang zu Studierenden mit Beeinträchtigung bietet. Weiterführende Informationen finden sich auf der Website.
Beeinträchtigung breiter denken
Das Ziel von „BlindDate“: Lehrende sollen für die Vielfalt möglicher Beeinträchtigungen ihrer Studierenden sensibilisiert werden – auch für die unsichtbaren. „In unseren Befragungen kamen immer wieder Kommentare wie ‚Ich habe in meinen Kursen niemanden mit Beeinträchtigung, das betrifft mich nicht“, so Piskorek. „Doch! Die Plattform soll bewusst machen, dass Beeinträchtigungen nicht immer sichtbar sind. Und sie soll Lehrenden zeigen, wie niedrigschwellig sie bereits helfen können.“ Damit setzt „BlindDate“ sehr früh an: bei der Bewusstseinsbildung rund um das Thema Barrierefreiheit. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass nicht nur körperliche oder sensorische Barrieren eine Rolle spielen, sondern ebenso psychische und soziale. „Wir wollten darauf aufmerksam machen, dass es viele Gründe gibt, warum man nicht in Regelstudienzeit studieren kann“, erzählt Piskorek. Stellvertretend dafür sitzen etwa Maxi und Faiza im Hörsaal: Maxi, 29, studiert Architektur im Master und lebt seit längerem mit Depressionen und einer Angststörung. Faiza ist Mutter und stößt durch die Pflegeverantwortung für ihren kleinen Sohn ebenfalls auf Barrieren in ihrem Informatikstudium. Ihre Geschichten zeigen, wie unterschiedlich Barrieren im Studium sein können. Besonders wertvoll für die Entwicklung der Plattform sei deshalb das Feedback betroffener Studierender gewesen: „Schließlich wissen die ja am besten, wie es sich mit einer Beeinträchtigung studiert“, sagt Piskorek.
Strategien zur Studiumsbewältigung
Auf „BlindDate“ geht es nicht nur um die Beeinträchtigungen selbst, sondern auch und vor allem um die Strategien und Hilfsmittel, die Studierende nutzen, um ihren Alltag zu bewältigen. „Damit möchten wir Lehrenden ein besseres Verständnis vermitteln und aufzeigen, wo sie zusätzlich aktiv werden können“, so Böhm.
Masterstudent Oliver, der eine Lese-Rechtschreib-Störung und ADHS hat, nutzt verschiedene assistive Technologien: Die sogenannte OCR-Software wandelt Texte aus Scans oder Bildern in bearbeitbaren Text um, den er sich laut vorlesen lassen kann. Zudem verwendet er Schreibprogramme mit Diktierfunktion und automatischer Rechtschreib- und Grammatikprüfung.
Auch Hannah, Lehramt-Studentin im Fach Mathematik, wendet mehrere Strategien an: „Ich bin nämlich von Geburt an hörbehindert auf beiden Ohren. Ich trage links ein Hörgerät und rechts ein Cochlea-Implantat“, erzählt sie auf der Plattform. Untertitel, Gebärdensprache und ein klares Mundbild der Lehrenden helfen ihr zusätzlich. „Weil ich nicht gut höre, brauche ich Zusatzinformationen, die ich durch das Ablesen von Mund und Lippen bekomme. Wenn Lehrende sich wegdrehen und sprechen, ihren Mund verdecken oder zu weit weg sind, fehlen mir diese Infos.“ Ein Erklärvideo und eine Übungssimulation ermöglichen es, Hannahs Perspektive einzunehmen und zu erkennen, wie bereits eine simple Ankreuzaufgabe im Moodle zur Herausforderung werden kann.
Zu den Personen
Ann-Katrin Böhm
Mitarbeiterin im Projekt „SHUFFLE“, Pädagogische Hochschule Heidelberg
Patricia Piskorek
Mitarbeiterin im Projekt „SHUFFLE“, Hochschule der Medien Stuttgart
„Umdenken erforderlich“
Doch wie soll der Abbau von Barrieren gelingen, wenn die Zeit dafür fehlt? Mit diesem Einwand wird das „BlindDate“-Team regelmäßig konfrontiert. „Natürlich gibt es zunächst diese Einstiegshürde“, sagt Böhm. „Gerade für Lehrende, die schon lange in der Lehre tätig sind, erfordert das ein Umdenken. Aber wenn man Barrierefreiheit von Anfang an mitdenkt, sind nachträgliche individuelle Anpassungen deutlich seltener nötig.“ Der einmalige Mehraufwand zahlt sich aus: Sind die Materialien erst einmal einheitlich barrierefrei gestaltet, können sie langfristig genutzt werden. „Das hat in unseren Augen auch viel mit Nachhaltigkeit zu tun“, ergänzt Piskorek.
Zum Einstieg stellt „BlindDate“ auf jedem Persona-Profil einen Selbstcheck zur Verfügung, mit dem Lehrende ihre Veranstaltungen auf Barrierefreiheit prüfen können. Darin sind niedrigschwellige Maßnahmen aufgelistet, die bereits einen wichtigen Beitrag leisten und auch Studierenden helfen, von denen man es zunächst nicht vermuten würde. „Wir sagen immer: Für viele Studierende ist barrierearme Lehre sehr sinnvoll, für einige ist sie essentiell“, so Böhm. „Im Prinzip wollen wir damit zeigen, dass sie wesentlich mehr Menschen zugutekommt, als man das vielleicht auf dem Schirm hat.“
Begegnung fördern
Während der Projektlaufzeit konnte das Team mehrfach Erfolg bei Einreichungen verzeichnen und „BlindDate“ auf Konferenzen vorstellen. „In Freiburg haben wir mal mit dem Didaktikzentrum einen Workshop zum Thema Barrierefreiheit angeboten, aus dem eine ganze Veranstaltungsreihe an der PH Freiburg entstanden ist“, erzählt Böhm. Insgesamt habe es viel positives Feedback gege-ben, und auch externe Akteure wie der Cornelsen Verlag oder die Agentur für Arbeit verweisen online auf „BlindDate“.
Schwieriger sei es jedoch, die Aufmerksamkeit derer zu gewinnen, die sich noch nicht mit dem Thema beschäftigt haben. „Ich hätte nicht gedacht, dass man in der breiten Masse so früh ansetzen und manchmal noch argumentieren muss, warum Barrierefreiheit wichtig ist“, so Böhm weiter. Die Lehrenden, die an den bisherigen Konferenzen und Workshops teilgenommen hätten, seien in der Regel vorsensibilisiert. „Wir haben definitiv schon Lehrende erreicht, aber an diejenigen heranzukommen, die das Thema am meisten betrifft, bleibt eine große Herausforderung.“ Es fehle nicht nur an Zeit und Ressourcen, sondern auch an struktureller Verankerung. „Mein Traum wäre, dass Lehrende im Rahmen ihres Onboardings direkt auf ‚BlindDate‘ hingewiesen werden, idealerweise sogar verpflichtend. Davon sind wir jedoch noch weit entfernt“, so Böhm.
Auch nach Ende der Förderung bleibt die Plattform frei zugänglich. „‚BlindDate‘ ist zwar eine virtuelle Begegnungsplattform, aber soll echte Begegnungen nicht ersetzen“, erklärt Piskorek. Die Idee liege vielmehr darin, echte Begegnungen zu fördern und Lehrende darauf vorzubereiten. „Am wichtigsten ist immer die Offenheit. Die Studierenden sollen wissen, dass sie mit ihren Bedarfen auf mich zukommen dürfen.“ Solche kleinen, aber dennoch bedeutsamen Schritte seien ein guter Anfang, um die eigene Lehre barriereärmer und inklusiver zu gestalten.
Zum Projekt
Die Plattform „Barrierefreies BlindDate“ gehört zum Verbundprojekt „SHUFFLE“, das wir im Rahmen der Förderung „Hochschullehre durch Digitalisierung stärken“ von 2021 bis Ende 2025 gefördert haben. Die vier beteiligten Partnerhochschulen – die Hochschule der Medien Stuttgart, die Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Freiburg sowie die Universität Bielefeld – haben sich mit „SHUFFLE“ zum Ziel gesetzt, deutsche Hochschulen digital barrierefrei zu gestalten. Daran arbeiten die Projektmitarbeitenden in mehreren Teilprojekten und Arbeitspaketen, die unter anderem strukturelle und technische Aspekte umfassen. Die aus dem Projekt entstandene Plattform „BlindDate“, die federführend von der Stuttgarter Hochschule der Medien und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg betreut wurde, setzt bei der Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung Lehrender an und bleibt auch nach Ende der Förderung als Open Source erhalten.
Zur Autorin
Raika Selle
Volontärin Kommunikation
Raika Selle ist Volontärin im Team Kommunikation der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.