Beitrag vom
08.12.2022
Interview
Wenn Ironie nicht weiterhilft
Ein Beitrag von Kilian Kirchgeßner
Herr Sethe, was war Ihr erster Kontakt mit guter Lehre?
Sethe: Ich hatte in meinem Studium in Tübingen einen sehr engagierten Professor: Er bot damals anstelle einer klassischen Vorlesung eine Veranstaltung zur Examensvorbereitung an, bei der man Gelegenheit zur Lösung von Fällen hatte, was den realen Anforderungen in der späteren Prüfung entsprach. Für die Examensvorbereitung war das extrem gut, weil man im Eins-zu-Eins-Gespräch mit dem Dozenten natürlich gleich merkte, an welchen Stellen man falsch argumentiert. Und er hatte eine wirklich gute Methode.
Sissouno: Jetzt bin ich gespannt.
Sethe: Es gab geschützte Reihen: Nur diejenigen in den ersten drei Reihen wurden in ein Zwiegespräch verwickelt, die übrigen Reihen wurden nicht aufgerufen. Je näher das Examen kam, desto weiter sollte man sich also nach vorne setzen, um wirklich etwas zu lernen. Damals ist mir klar geworden, wie wichtig auch eine angstfreie Lernumgebung ist. Der Dozent hat nie jemanden bloßgestellt, sondern eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen. Als ich später selbst unterrichtet habe, wurde mir die große Bedeutung dieses Elements bewusst.
Sissouno: Vor dieser Herausforderung stehen wir öfters: Wir haben bei uns in der Mathematik viele Servicelehrveranstaltungen – also mathematische Lehrveranstaltungen, die von uns für andere Studiengänge oder Fakultäten angeboten werden. Ich erinnere mich an eine meiner ersten eigenständigen Lehrveranstaltungen; Mathematik für Chemiestudierende. In einer Kleingruppenübung saß eine Studentin vor einem völlig leeren Tisch. Sie hatte keine Zettel, keinen Stift, gar nichts. Und als ich sie ansprach, brach es aus ihr heraus: ‚Ich kann Mathe nicht, ich konnte Mathe noch nie. Ich will nur die Prüfung bestehen und dann nie mehr etwas damit zu tun haben!’ Dieser Moment hat in mir die Frage ausgelöst, wie ich es schaffe, diese Hürde zu nehmen, diese Ängste oder Blockaden abzubauen und die Studierenden zu aktivieren.
Was haben Sie herausgefunden – was ist das Geheimnis der guten Lehre?
„Die Aufgabe der Dozierenden liegt darin, in Sackgassen gute Hilfestellungen beispielsweise durch Hinweise oder Fragen zu geben.“
Sissouno: Ich glaube, es gibt eine große Gemeinsamkeit zwischen Mathematik und Jura: Beides ist de facto eine neue Sprache, die die Studierenden lernen müssen. In der Vorlesung hören sie, wie es klingt, wenn man in dieser Sprache spricht. In Übungen und Kleingruppen fangen sie selbst an, in Diskussionen die Sprache zu verwenden. Aber um sie auch wirklich zu verinnerlichen, muss man sich hinsetzen und trainieren, wie man einen Muskel trainiert. Man muss sich richtig anstrengen, muss auch einmal mit einer Rechnung in die Sackgasse laufen und einen Weg suchen, wieder rauszukommen. Die Aufgabe der Dozierenden – von den Professor*innen hin zu studentischen Tutor*innen – liegt darin, in solchen Sackgassen gute Hilfestellungen beispielsweise durch Hinweise – oder besser: Fragen – zu geben. Das ist ein wichtiger Bestandteil von guter Lehre.
Sethe: Viele Dozierende haben immer noch die Vorstellung im Kopf, dass man Wissen am besten vermittelt, indem man die Inhalte erzählt – der sogenannte „Nürnberger Trichter“. Das kann nicht funktionieren! Stellen Sie sich einen Klavierlehrer vor, der sich vor die Klasse stellt, ein kompliziertes Stück spielt und dann seinen Schüler*innen einfach nur sagt: ‚So, und jetzt spielt das nach!’ Deshalb teile ich meine Vorlesungen in Input-Blöcke einerseits und Fragen- bzw. Übungsblöcke andererseits ein und übe die Anwendung des Wissens mit meinen Studierenden ein. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob es eine Kleingruppe oder eine Vorlesung mit mehreren hundert Personen ist.
Sissouno: Ich finde gute Lehre ist ein sehr weiter Begriff – das ist eine hoch individuelle Sache. Mir hat mal ein Kollege geraten, eine konkrete Situation mit ein bisschen Witz und Ironie zu lösen. Die Veranstaltung ist nicht gut gelaufen. Ich denke vor allem, weil das einfach nicht meine Art ist, ich mich verstellen musste und es als Sarkasmus wahrgenommen wurde. Jeder muss also seinen eigenen Weg finden. Aber der Grundgedanke dahinter ist immer gleich: Wir müssen die Studierenden begleiten und sie so zu den Inhalten hinführen, dass sie selbst aktiv werden.
Zu den personen:
Dr. Nada Sissouno
Nada Sissouno lehrt seit 2017 Mathematik an der Technischen Universität München. Zuvor war sie an der Universität Passau und der Technischen Universität Darmstadt tätig. Sie wurde im Jahr 2020 mit dem Preis für gute Lehre des bayerischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet. Ihre Lehrerfahrung erstreckt sich über mathematische Grundlagenlehre für unterschiedlichste Fachrichtungen bis hin zu Spezialvorlesungen.
Dr. Rolf Sethe
Rolf Sethe lehrt als Professor Privat-, Handels- und Wirtschaftsrecht an der Universität Zürich. Er wurde 2007 als einer der ersten Wissenschaftler mit dem renommierten Ars legendi-Preis für exzellente Hochschullehre ausgezeichnet. In der Schweiz erhielt er 2011 den Lehrpreis „Gute Lehre fördern“ der Universität Zürich und 2015 den Credit Suisse Award for Best Teaching.
Wie haben Sie selbst sich denn didaktisch auf das Lehren vorbereitet?
Sissouno: Mein Weg ist es, mir durch Weiterbildungen, autodidaktisch und im Austausch mit Kolleg*innen einen großen Werkzeugkasten zuzulegen und so viele Methoden zu lernen wie möglich. Ich habe schon als Schülerin Nachhilfeunterricht gegeben und hatte da intensiven Kontakt mit jungen Menschen, bei denen nicht alles von alleine geklappt hat. Heute stehe ich immer wieder vor sehr heterogenen Gruppen. In all diesen Situationen muss man sich an das Gegenüber in gewisser Form anpassen können.
Sethe: Mir hat eine Kollegin sehr geholfen: Wir waren zwölf Jahre lang am gleichen Lehrstuhl in Tübingen tätig und haben wechselseitig unsere Lehrveranstaltungen besucht, viel ausprobiert und immer neue Verbesserungen versucht. Gemeinsam mit Assistierenden aus anderen Fakultäten haben wir dann einen hochschuldidaktischen Arbeitskreis gegründet. Das kam einer Revolte schon sehr nah.
Wieso denn das?
Sethe: Tübingen hat unter den Achtundsechzigern ziemliche Turbulenzen erlebt, die noch nachwirkten. Und wenn man in den 1990er Jahren nur das Wort Hochschuldidaktik in den Mund genommen hat, haben alle nur gesagt: Um Himmels Willen, jetzt kommen die Altachtundsechziger um die Ecke und wollen hier die Revolution planen. Sie dachten, Didaktik heiße, man wolle ihnen etwas Neumodisches vorschreiben. Wir bekamen für unseren Arbeitskreis auch kein Geld von der Uni – das Maximum an Unterstützung war ein freier Raum für die Treffen, aber selbst das nur abends nach 18 Uhr. Zum Glück hat sich die Situation seitdem gründlich gewandelt.
Sissouno: Ich spüre gerade den Generationsunterschied zwischen uns: Sie mussten das alles erkämpfen – und bei mir gab es dann schon viele Ansätze. Zum Beispiel wurde ich direkt zu Beginn meiner Tätigkeit als Tutorin durch eine Schulung in einigen didaktischen Methoden trainiert, welche insbesondere Alternativen zum klassischen Frontalunterricht aufzeigten.
Hat sich der Stellenwert der guten Lehre seit diesen Anfängen auch deshalb geändert, weil die Studierenden sie stärker einfordern?
„Meiner Meinung nach hat die gesellschaftliche Debatte zu einem höheren Stellenwert der Lehre geführt.“
Sissouno: Meiner Meinung nach hat die gesellschaftliche Debatte zu einem höheren Stellenwert der Lehre geführt. Wir haben uns in den vergangenen Jahren immer bewusster gemacht, dass Menschen unterschiedlich sind. Es ist nachgewiesen, dass man durch reines Vortragen nicht automatisch einen Lernerfolg produzieren kann. Dafür haben wir jetzt eben die verschiedenen Werkzeuge, von denen ich vorhin sprach. Ein zweiter Aspekt: Die Dozierenden haben gemerkt, dass die Lehre auch ihnen mehr Spaß macht, wenn die Studierenden mit Freude bei der Sache sind.
„Für mich ist der Hörsaal lebenswichtig.“
Sethe: Das unterschreibe ich sofort! Ich selbst kann mir nichts Langweiligeres vorstellen, als mich zu 100 Prozent nur meiner Forschung zu widmen. Ich brauche die Abwechslung. Für mich ist der Hörsaal lebenswichtig.
Sissouno: Ja, das geht mir auch so.
Halten Sie da noch die gleichen Vorlesungen wie vor 20 Jahren?
Sethe: Natürlich nicht, dafür gibt es viel zu große Fortschritte – und zwar auf didaktischer Seite ebenso wie auf technischer! Ich halte zum Beispiel eine Vorlesung zum Kapitalmarktrecht als sogenannten Flipped Classroom. 90 Minuten pro Woche sind dafür angesetzt, und ich habe diese Zeit aufgeteilt: Den Input vermittle ich mit einem Video von 45-Minuten, das ich eine Woche vor dem Unterricht zur Verfügung stelle. Die Studierenden können das nach eigenem Gusto vor- und zurückspielen, mehrfach durchgehen und so weiter – aber sie müssen es durchgearbeitet haben, wenn sie dann in Präsenz zu den zweiten 45 Minuten kommen.
Wie hat sich dadurch der Präsenzunterricht verändert?
Sethe: Die Diskussionen sind unheimlich lebendig geworden. Die Studierenden sind plötzlich viel besser in der Lage, die Fälle zu lösen, die ich ihnen als Aufgabe gebe, weil sie sich eben zu Hause schon eingearbeitet und eingedacht haben. Es kommen viel weniger inhaltliche Rückfragen, und ich habe plötzlich eine Präsenzveranstaltung mit unglaublich lebendigen Diskussionen.
Sissouno: Die digitalen Entwicklungen haben uns ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Man kann gute Lehre ohne digitale Unterstützung machen, ganz klar – aber wieso sollte man? Wir dürfen nicht vergessen, dass die Studierenden inzwischen alle digital natives sind. Viele haben sowieso ihren Laptop oder das Tablet dabei, und ich finde, dass wir das nutzen sollten.
Frau Sissouno, als Sie mit Ihrem Lehrpreis ausgezeichnet worden sind, hatte die Jury vor allem Ihr Engagement bei der Umstellung auf digitale Formate in der Corona-Zeit hervorgehoben. Hat sich Ihre Lehre, die nun wieder in Präsenz möglich ist, verändert?
Sissouno: In der Phase mussten wir – so wie alle anderen Hochschulen auch – natürlich alles komplett umkrempeln. Jetzt sind wir auf der Suche nach der richtigen Balance, denn wir sind eine Präsenz-Universität, und zudem braucht das Fach Mathematik den direkten Austausch. Eine Umfrage hat erst neulich ergeben, dass die Studierenden die Videos und Vorlesungsmitschnitte weiterhin haben wollen; ob oder wie sie diese nutzen, blieb allerdings offen. Tatsache ist, dass man damit der Heterogenität unter den Studierenden besser begegnen kann, weil alle ihr Tempo und ihre Schwerpunkte selbst auswählen können – aber wir dürfen die Leute auch nicht überfordern, indem wir sie ungefiltert mit riesigen Mengen Material zuschütten.
Sethe: Ich habe Kollegen, die hatten während der Lockdowns mehr Angst vor der Kamera als vor Corona. Aber Scherz beiseite: Wir können digital lehren, und das klappt auch in Jura. Der Beweis ist jetzt erbracht und es führt kein Weg mehr zurück. Aber Frau Sissouno, wie machen Sie das eigentlich mit den Studierenden, die in der Online-Lehre ihre Kamera abschalten und nur als schwarze Kacheln auf dem Bildschirm erscheinen?
Sissouno: Das ist tatsächlich eine Herausforderung. Darunter sind diejenigen, bei denen ich fürchte, dass sie auch innerlich abschalten. Ich denke, dass genau die Balance zwischen Online- und Präsenzlehre hier wichtig ist: Ja, ich stelle Materialien digital zur Verfügung und stelle nach einer Veranstaltung die Notizen online. Aber es gibt weiter Übungen und Kleingruppen, die in Präsenz stattfinden, und von denen gibt es auch keine Aufzeichnung. Für die Mathematik ist es einfach essentiell, dass man sich hinsetzt, diskutiert und Lösungsansätze probiert. Deswegen biete ich meine Veranstaltungen nicht komplett digital an, und deshalb können sich einzelne Studierende auch nicht hinter der ausgeschalteten Kamera verstecken.
Moment: Sie sprechen in Zusammenhang mit der Digitalisierung vor allem von der Übermittlungsform. Die didaktischen Konzepte haben sich aber ja auch geändert.
„Ich baue Umfragen ein, mit denen ich ganz unkompliziert zwischendurch den Wissensstand der
Studierenden abfrage und feststelle, ob sie mir noch folgen können.“
Sissouno: Natürlich! Bei uns gibt es nach wie vor große Veranstaltungen. In diesen setze ich beispielsweise auch anonyme Online-Chats ein. Hier können mir die Studierenden Rückmeldungen geben und Fragen stellen. Ich empfinde zwar den direkten Austausch klarer und sinnvoller, allerdings sind hierbei bei manchen eben doch die Hemmungen zu groß. Für mich ist das gerade aber auch ein großes Experiment: Ich hatte zum Beispiel mal einen Panik-Knopf angeboten, den die Studierenden drücken können, wenn sie komplett den Anschluss verlieren. Das hat sich überhaupt nicht bewährt, denn ich konnte nicht mehr zurückverfolgen, an welcher Stelle der Veranstaltung genau die Panik ausgebrochen ist – wie weit ich also zurückspringen muss. Diesen Knopf habe ich wieder deaktiviert. Stattdessen baue ich jetzt auch mal Umfragen ein, mit denen ich während der Veranstaltung ganz unkompliziert zwischendurch den Wissensstand der Studierenden abfrage und feststelle, ob sie mir noch folgen können.
Gibt es etwas in der Vielzahl der neuen didaktischen Methoden und Techniken, das Sie unbedingt einmal ausprobieren möchten?
Sethe: Ich beschäftige mich gerade intensiv mit dem Thema „barrierefreie Lehre“. Ich bin Mitglied einer Arbeitsgruppe, die dazu ein Konzept ausarbeitet. Die digitalen Methoden eröffnen da ganz neue Chancen: Wenn etwa für Hörbehinderte ein Video mit Untertiteln versehen werden kann, ist das eine große Hilfe. Auch müssen beispielsweise die Vorlesungsmaterialien für Sehbehinderte geeignet sein. In der Schweiz hatten 2020 46 Prozent eines Jahrgangs einen Abschluss einer Fachhochschule oder Universität. Von den Personen mit einer Behinderung sind es aber nur 17 %. Es besteht daher großer Handlungsbedarf.
Sissouno: Ich finde das Konzept des Flipped Classrooms interessant, das Sie ja schon erwähnt hatten, Herr Sethe. Gewisse Anteile lasse ich schon jetzt einfließen. Wenn ich dafür die passenden Rahmenbedingungen habe, würde ich dies gerne einmal vollständig ausprobieren. Diese Erfahrung wird mir sicher wieder einen neuen Blick auf die Lehre eröffnen.
Dieser Beitrag ist (in gekürzter Fassung) zuerst in unserem Print-Magazin „Der Hörsaal ist tot. Es lebe der Hörsaal!“ erschienen.
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