Beitrag vom
11.11.2022
Jahresprogramm 2022
Mut zu Imperfect Action
Ein Beitrag von Dr. Esther Bishop
„The land of the curious” (das Land der Neugierigen), so lautet der selbstbewusste Slogan der LUT – Lappeenranta University of Technology im Osten Finnlands. Ebenso selbstbewusst geht die Uni mit ihrer Position in internationalen Rankings (9th in the world – Times Higher Education Ranking) in Bezug auf die Ausrichtung auf Nachhaltigkeitsziele um.
Die 34 Teilnehmer:innen unseres Jahresprogramms reisten in Europas Norden, um sich vor Ort ein Bild von der Entwicklung der Hochschule und der Ausgestaltung der Nachhaltigkeitsstrategie in Lehre, Forschung, Hochschulbetrieb und Alltagspraxis zu machen.
Köpfe heiß reden
Unser Anspruch, innereuropäische Flugreisen vermeiden zu wollen und stattdessen mit Bus und Fähre zu reisen, hatte dabei Folgen: Die Teilnehmer:innen investierten fast eine Woche Zeit. Denn wir reisten anderthalb Tage auf dem Schiff – und zwar hin und zurück. Auf der Hinreise definierten wir Beobachtungsgegenstände, diskutierten Fragetechniken und Fragestellungen. Auf der Rückreise konnten wir die vielfältigen Eindrücke entwirren, kategorisieren und schon direkt Folgerungen entwickeln. Kurzum: Diese Form der Reise zahlte sich aus. Im Restaurant der Fähre hatten wir Raum für Workshop und Diskussionen, in dem wir uns intensiv die Köpfe heiß reden konnten. Die lange Zeit auf engem Raum nutzten wir so sehr intensiv.
An der LUT, die rund 230 Kilometer östlich von Helsinki mitten auf dem Land liegt, ging es los mit dem offiziellen Programm. Wir starteten mit Präsentationen des Präsidiums, des Strategiemanagers und der Marketingabteilung. Diese strategischen Perspektiven hatten wir ergänzt durch ein Matching unserer Teilnehmer:innen mit Universitätsangehörigen der LUT auf Akteursgruppenebene. Hochschulleitungsangehörige, Lehrende, Personen aus dem Wissenschaftsmanagement und Student:innen hatten dadurch die Gelegenheit, sich mit Personen aus den jeweils gleichen Akteursgruppen auszutauschen, sich kennenzulernen und tiefer in die Entwicklungsprozesse und Bewertungen der jeweiligen Gegenüber einzutauchen. Gleichzeitig ermöglichten die Gruppensettings Momente der Reflexion und die Chance, auch Atmosphäre und Interaktion mit zu berücksichtigen.
Informeller Austausch wichtig
Aus der Perspektive der konzeptionell verantwortlichen Person ist die Mischung aus eher formalen Settings und informellen Gesprächen in Kombination mit der Besichtigung des Campus gut aufgegangen. Die Irritation, die eine Universität mit so ausgeprägter Markenführung wie der LUT hervorrufen kann, wurde durch die persönlichen Gespräche gut aufgefangen. Die Erkenntnis, dass eine technische Universität für die Herausforderungen des Klimawandels eher technische Antworten findet, mag profan sein, fungierte aber als Reflexionsimpuls zu den Möglichkeiten und dem Zusammenwirken der verschiedenen Fachdisziplinen.
Das verglaste (Großraum-) Präsidiumsbüro und die Grundschule, die sich den Campus mit der Universität teilt – die Kinder finden ihren Weg über kleine bunte Fußstapfen, die quer durch die Campuslobby auf dem Boden kleben: Das sind Einzelbeispiele für informelle Aspekte, die unser Erleben von Lernen und dem Wert, der ihm beigemessen wird, prägten. Diese Eindrücke setzten sich fort für den Besuch der Oodi – dem „Wohnzimmer“ der Finnen – ihrer öffentlichen Bibliothek. Ähnlich viele Generationen und Milieus treffe ich sonst nicht einmal im Supermarkt. Mit der Bücherhallenkarte 3D-Drucker, Tonstudios inklusive Instrumenten und Arbeitsräume höchster Qualität und Ausstattung nutzen zu können, war mehr als beeindruckend; es war euphorisierend. Kinderwagenparkplätze im Lesesaal schaffen nicht nur Zugang, sie vermitteln Wertschätzung für Personen mit Care-Aufgaben und operationalisieren unmissverständlich den Wert von Bildung!
Vertrauenskultur prägend
Sie schienen ersetzt durch eine andere Vertrauenskultur. Der Mut zu „Imperfect Action“ erschien uns als eine Antwort der LUT auf die Frage, wie man angesichts der allumfassenden Problematik des Klimawandels aus der Analyse der Probleme in eine gestaltende Rolle gelangen und die Zurückhaltung über Bord werfen kann. Dass auch an der LUT „nur mit Wasser gekocht wird“, ist selbstverständlich. Der Publikationsdruck ist hoch, die Umstände in Finnland allein schon wegen der insgesamt geringen Zahl der Hochschulen kaum vergleichbar mit Deutschland. Dennoch lohnt ein Blick in die Nachhaltigkeitsstrategie der Konferenz der Hochschulpräsidien in Finnland hinsichtlich der Klarheit, mit der Ziele benannt und operationalisiert werden.
Über Bord ging auch auf der Rückreise glücklicherweise niemand. Stattdessen wurde es der Moment, in dem aus einem zusammengewürfelten Haufen außerordentlich engagierter Personen eine Gruppe entstand. Eine Gruppe, die erste Handlungsfäden in die Hände genommen hat und die einen Unterschied machen möchte, wobei bei aller Begeisterung und Diskussionsfreude als 35. Teilnehmer das Wissen im Raum war und mahnte, dass unsere Bemühungen angesichts der Aussichten nicht genug sein werden.
Zur Autorin
Dr. Esther Bishop
Referentin Austausch & Vernetzung
ist Referentin für Austausch & Vernetzung der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.