Inklusion in der Lehre
Ein Beitrag von Greta Lührs
Seit Januar 2025 qualifizieren sich acht Menschen mit Lernschwierigkeiten zu sogenannten Bildungsfachkräften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) Hamburg. Alle sind berechtigt, in einer Werkstatt für behinderte Menschen zu arbeiten. Sie wurden aus einem Pool an Bewerber:innen ausgewählt und sollen nach der dreijährigen Qualifizierung eigene Bildungsformate an der Hochschule anbieten können. Das Konzept der Bildungsfachkräfte hat das Institut für inklusive Bildung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel entwickelt und bereits erfolgreich an mehrere Hochschulen transferiert. An der HAW Hamburg sind Prof. Dr. Marlene-Anne Dettmann und Prof. Dr. Dieter Röh aus dem Department Soziale Arbeit verantwortlich für das Projekt „Hochschulbildung inklusiv“. Auch nach Ablauf der Projektförderung soll die wissenschaftliche Begleitung fortgeführt werden.
Die Bildungsfachkräfte sollen nach ihrer Qualifizierung fest an der Hochschule angestellt werden und „Botschafter:innen für Inklusion“ sein, erklärt Marlene-Anne Dettmann. Die Professorin für Soziale Arbeit befasst sich schon lange mit der Frage, wie Nutzer:innen von sozialen Dienstleistungen in die Weiterentwicklung dieser Dienstleistungen einbezogen werden können („Service User Involvement“). Sind Nutzer:innen an der Konzeption beteiligt, können Dienstleistungen noch besser auf die realen Bedarfe abgestimmt werden. „Durch die Erfahrungen der Bildungsfachkräfte können wir sehen, wo wir die Studierenden noch besser qualifizieren müssen, damit sie verschiedene Zielgruppen sowohl während des Studiums als auch später im Arbeitsleben gut berücksichtigen können“, so Dettmann. Ferner bietet das Projekt Menschen mit Beeinträchtigungen eine berufliche Perspektive abseits der Werkstatt in einem Bereich, der dieser Personengruppe sonst meist verschlossen bleibt. Die Partizipationsmöglichkeiten für Personen mit Lernschwierigkeiten an der akademischen Welt sind bislang äußerst gering.

Zu den Personen
Prof. Dr. Marlene-Anne Dettmann
Marlene-Anne Dettmann ist Professorin im Department Soziale Arbeit und leitet das Projekt „Hochschulbildung inklusiv“ an der HAW Hamburg. Ihre derzeitige Forschung befasst sich mit der Beteiligung von Erfahrungsexpert:innen in der akademischen Ausbildung von Sozialarbeiter:innen.

Prof. Dr. Dieter Röh
Dieter Röh ist Professor an der HAW Hamburg im Department Soziale Arbeit mit besonderem Fokus auf Rehabilitation und Teilhabe. Er leitet das Projekt „Hochschulbildung inklusiv“ und ist Prodekan für Forschung der Fakultät Wirtschaft und Soziales.
Während der Qualifizierung lernen die angehenden Bildungsfachkräfte, ihre eigenen Erfahrungen biografisch aufzuarbeiten, sie im Kontext eines gesellschaftlichen Systems einzuordnen und ein Stück weit von ihnen zu abstrahieren. Durchgeführt wird die Qualifizierung durch pädagogische Fachkräfte des Kooperationspartners Hamburger Arbeitsassistenz, eines erfahrenen Fachdienstes zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes. Wer sich für diese Qualifizierung entscheidet, muss bereit sein, über das Leben als Mensch mit einer Beeinträchtigung zu sprechen und das gezielt zum Thema zu machen. Für Dettmann ist das Erfahrungswissen der angehenden Bildungsfachkräfte nicht weniger wertvoll als das akademische Wissen. Es gehe aber auch nicht darum, akademische Lehrinhalte abzuwerten oder zu ersetzen, sondern um ein gegenseitiges Ergänzen. Laut Dettmann helfe die Erfahrungsperspektive, das wissenschaftliche Wissen „etwas zum Leben zu erwecken“: Der Perspektivwechsel erlaubt, die Studieninhalte konkreter, praxisnaher zu denken.
Durch unsere Förderung werden Studierende und die angehenden Bildungsfachkräfte in sogenannten Co-Seminaren zusammengebracht. Diese Seminare setzen auf Partizipation: Studierende und Bildungsfachkräfte erarbeiten gemeinsam mögliche Bildungsangebote für die Zeit nach der Qualifizierung. „Wir wollen kein Standardprodukt zum Thema Inklusion entwickeln“, sagt Dettmann, „sondern die Studierenden auffordern, sich selbst zu fragen, wie das Thema Inklusion im eigenen Studium bearbeitet werden kann.“
Hochschulbildung inklusiv auf dem University:Future Festival
Am 13. Mai 2025 um 13:45 Uhr stellt sich das Projekt auf der digitalen StIL-Stage unter dem Titel: „Aus der Werkstatt für behinderte Menschen als Dozent:in in die Hochschule“ vor. Alle Informationen zum Festival finden Sie auf der Website des U:FF.
In den gemeinsamen Seminaren spielt der zwischenmenschliche Faktor eine große Rolle. Die Begegnungssituation im Hochschulkontext ist für alle Beteiligten ungewohnt und Vorbehalte gibt es sowohl bei den Studierenden als auch bei den angehenden Bildungsfachkräften. Um diesen zu begegnen, hilft es, sich erst einmal kennenzulernen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken und Verständnis für die andere Person zu entwickeln. Dies unterstützen Dettmann und ihr Team durch ein Buddy-System: Jeweils ein:e Studierende:r und eine angehende Bildungsfachkraft verbringen gezielt Zeit zusammen, zeigen sich gegenseitig ihre Lebenswelt, indem sie zum Beispiel gemeinsam in die Vorlesung oder die Mensa gehen. „Die angehenden Bildungsfachkräfte müssen die akademische Welt und das Studieren erst kennenlernen. Und die Studierenden erfahren aus erster Hand, wie es ist, zum Beispiel keine freie Berufswahl zu haben, nicht selbstständig wohnen zu können oder im öffentlichen Raum ständig auf Barrieren zu stoßen“, erklärt Dettmann.
Eine Begleitforschung zum Projekt wird ebenfalls durch unsere Förderung finanziert und mit den wissenschaftlichen Mitarbeitenden Katharina Scholz und Frederik Rost umgesetzt. Auch hier achtet das Projektteam auf Studierendenpartizipation: Studentische und wissenschaftliche Hilfskräfte übernehmen nicht nur Fleißaufgaben, sondern sind in Forschungsarbeit wie Interviews eingebunden und bei relevanten Treffen und Tagungen dabei.
Die Evaluation des Projektes ist nicht nur für die interne Dokumentation wichtig, sondern auch für den Transfer. Dettmann und ihr Team haben sich vorgenommen, die Angebote der späteren Bildungsfachkräfte an der ganzen HAW zu etablieren, nicht nur in dem Bereich der Sozialen Arbeit, der Gesundheitswissenschaft oder der Hebammenwissenschaft. „Auch Studierende des Rettungsingenieurwesens müssen wissen, wie man zum Beispiel barrierearme Evakuierungspläne entwirft. Wer Flugzeuge baut, muss bedenken, dass auch Menschen mit Beeinträchtigungen reisen möchten. Inklusion ist für jeden Studiengang wichtig, weil unsere Gesellschaft vielfältig ist“, so Dettmann. Daher wollen sie nun auch die Kolleg:innen aus Departments wie Medien und Design, Informatik oder Maschinenbau für das Projekt begeistern. „Unsere Formate benötigen Offenheit und Flexibilität. Wir streben damit nicht weniger als einen Strukturwandel an der Hochschule an.“
Zur Autorin
Greta Lührs
Greta Lührs ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.