Wertschätzung im Hochschulleben
Ein Beitrag von Greta Lührs
Frau Niendorf, was verstehen Sie unter Wertschätzung im Hochschulkontext und warum ist sie wichtig?
Lisa Niendorf: Ich hoffe, dass jede Person im Laufe ihres Lebens mindestens einmal echte Wertschätzung erfahren durfte. Wertschätzung bedeutet soziale Anerkennung, echtes Interesse und das aufrichtige Sehen eines Menschen in seiner individuellen Einzigartigkeit. Warum also sollte Wertschätzung im Hochschulkontext nicht entscheidend sein? Studien zeigen, dass Wertschätzung eine zentrale Ressource für akademisches Gelingen und das psychische Wohlbefinden ist. Studierende, die durch Lob, echtes Zuhören sowie einen respektvollen und fürsorglichen Umgang durch ihre Dozierenden Wertschätzung erfahren, lernen erfolgreicher, sind weniger erschöpft und denken seltener an Studienabbruch. Und das gilt auch für Lehrende und Forschende. Gerade in einem System, das oft über Konkurrenz, Leistung und ständige Quantifizierbarkeit definiert ist, sollte Wertschätzung einen ganz besonderen Stellenwert erhalten. Als (m)eine kleine Rebellion gegen Entfremdung und Ausbeutung.
Welche Faktoren entscheiden darüber, ob sich Studierende und Lehrende an der Hochschule wertgeschätzt fühlen?
Niendorf: Zuerst möchte ich mit einer guten Nachricht beginnen: Auch wenn Menschen in ihrem aktuellen Status quo unterschiedlich stark wertschätzend sein können, ist Wertschätzung erlernbar. Ein „Naja, er oder sie ist halt so“ zählt bei Wertschätzung nicht. Deswegen ist für mich ein Faktor besonders entscheidend: Die eigene Entscheidung, wertschätzend sein zu wollen. Was Studierende brauchen, um sich wertgeschätzt zu fühlen, können am besten Studierende beantworten. Deshalb habe ich sie auf meinem Instagram-Kanal gefragt: Sie wünschen sich, dass ihre Anliegen ernst genommen werden, nicht belächelt oder gar abgetan werden. Ebenso ist es für sie wichtig, dass ihre Leistungen Anerkennung erfahren. Und dabei besonders jene Leistungen, die vielleicht nicht einem idealisierten Maßstab des Professors oder der Professorin entsprechen, sondern das widerspiegeln, was Studierende in der jeweiligen Situation leisten konnten. Es geht also um das Sehen und das Anerkennen anderer Lebensrealitäten, die nicht die eigenen sind. Wertschätzung zeigt sich aber auch im Kleinen: ein aufrichtiges „Hallo“ auf dem Flur, Humor im Seminar und die Geduld oder die Bereitschaft, Menschen nicht vorschnell zu verurteilen. Gerade marginalisierte Gruppen wie Studierende, die Rassismus erfahren, chronisch Erkrankte, trans* Personen oder First Generation Studierende erleben Hochschulen häufig als Orte fehlender Anerkennung. Hier kann Wertschätzung buchstäblich lebensverändernd wirken.

Zur Person
Lisa Niendorf
Lisa Niendorf ist Erziehungswissenschaftlerin und Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als „FrauForschung“ veröffentlicht sie auf Instagram, TikTok und YouTube Beiträge über den Hochschulalltag mit besonderer Perspektive auf ein wertschätzendes Miteinander und Diskriminierungsfreiheit.
Welche Rolle spielt Wertschätzung für Sie persönlich?
Niendorf: Ich persönlich fühle mich als Wissenschaftlerin und Dozentin wertgeschätzt, wenn ich in meinem Engagement gesehen, statt belächelt oder gar als Bedrohung wahrgenommen werde. Ich schätze es sehr, wenn Menschen sich trauen, aus einer wohlbehüteten und manchmal auch gut geschützten Umgebung auszubrechen und mutig neue Ideen zu wagen. Mut ist anders in Bewegung, wie ich gerne sage. Und von meinen Studierenden fühle ich mich wertgeschätzt, wenn sie mir Feedback geben, ganz gleich ob positiv oder konstruktiv kritisches Feedback. Durch ihr Feedback geben sie mir einen Raum zum Weiterwachsen und für mich gibt es kaum etwas Schöneres, als stetig dazulernen zu dürfen. Und dennoch: Dass bestens ausgebildete und hoch qualifizierte wissenschaftliche Beschäftigte nach wie vor Nachwuchs genannt werden, Machtmissbrauch, prekäre Arbeitsbedingungen und Ausbeutung erfahren, ist alles andere als wertschätzend.
Welche Akteur:innen sind verantwortlich für ein wertschätzendes Klima? Welche Rolle spielen Lehrende?
Niendorf: Ich würde mir wünschen, dass jede Person es als eine Selbstverständlichkeit betrachtet, wertschätzend mit Mitmenschen umzugehen. Gerade Lehrende nehmen eine zentrale Rolle ein, wenn es darum geht, Wertschätzung nicht nur im Hochschulkontext, sondern auch darüber hinaus zu fördern. Wer selbst Wertschätzung erfahren hat, ist eher bereit, diese Haltung auch anderen gegenüber zu zeigen. Lehrende können also einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass Wertschätzung als gesellschaftlicher Wert weitergetragen wird.
Lisa Niendorf auf dem University:Future Festival
Alle Infos zur Keynote „Wind of Change? Wertschätzung in der Hochschule“ am 13. Mai 2025 um 14:20 Uhr auf der Garden-Stage in Berlin erfahren Sie auf der Website des U:FF.
Welche Rolle spielt Wertschätzung in Ihrer eigenen Lehre? Haben Sie vielleicht ein Beispiel?
Niendorf: Ich versuche zum Beispiel bei schriftlichen Hausarbeiten immer schriftliches Feedback zu geben. Das kostet mich viel Zeit. Oft bekommen die Studierenden die Arbeiten aus diesem Grund viel später korrigiert zurück, als eigentlich vorgesehen ist. Teilweise einige Wochen später. Deswegen frage ich vorher, ob jemand aufgrund von z. B. Bafög früher auf die Note angewiesen ist, dann ziehe ich die Person vor. Ansonsten bitte ich um Geduld und in 99 % der Fälle erfahre ich diese auch. Auch achte ich bei schriftlichen Rückmeldungen auf gewaltfreie Kommunikation, das ist schwerer, als man denkt. Für queere Studierende habe ich in jedem meiner Moodle-Kurse eine Pride-Flag hochgeladen. Letztlich versuche ich in allem, was ich tue, wertschätzend zu sein. Und will man Wertschätzung üben und lernen, dann ist man selbst die beste Übung. Das gelingt mir nicht immer und wird mir auch nicht immer gelingen. Genauso kann ich auch nicht von meinem Gegenüber erwarten, mir immer Wertschätzung entgegenzubringen. Aber das Beste, was wir tun können, ist, es immer wieder zu versuchen und sanft mit uns und anderen zu sein, wenn man mal zum Beispiel einen schlechten Tag hat. In meiner Lehre versuche ich das stets zu kommunizieren. Da beginne ich dann gerne eine Stunde mit den Worten: „Ich habe heute richtig schlechte Laune. Dafür können Sie nichts und das liegt auch nicht an Ihnen. Ich freue mich aber darauf, mit Ihnen jetzt dieses Seminar zu wuppen und bedanke mich für den Raum, dass ich das ansprechen durfte. Doch wenn ich heute ein wenig kurz angebunden sein sollte, sehen Sie es mir bitte nach.“
Sie sind sehr aktiv auf Social Media, besonders auf Instagram, und posten unter dem Namen „FrauForschung“ über den Hochschulalltag und Erfahrungen aus Lehre und Forschung. Welche Motivation steckt hinter dem Kanal und wen wollen Sie damit erreichen?
Niendorf: Ich möchte für Studierende die Person sein, die mir damals in meinem Studium gefehlt hat. Die einem zeigt, dass man mehr ist als seine Leistung. Dass Lehre und Forschung auch anders gestaltet werden können, als man es meistens kennt. Dass man auch mit einer Angststörung eine gute Wissenschaftlerin und Dozentin sein kann. Und, dass Professoren und Professorinnen sich öfter an die eigene Nase fassen sollten, statt den Fehler ständig bei Studierenden zu suchen. Und mittlerweile folgen mir auch viele Lehrende, worüber ich mich sehr freue.
Welche Rückmeldungen bekommen Sie zu Ihrer Arbeit – von den Studierenden und von anderen Lehrenden?
Niendorf: Es sind oft Rückmeldungen, die mich sprachlos machen. Aber in einer guten Art und Weise. Es verschlägt mir oft die Sprache, wenn ich vielen Menschen eine Inspiration bin und sie durch mich Mut, Kraft, Trost und Verständnis schöpfen können. Das berührt mich sehr. Und sicher gibt es auch Kritik, zumeist von älteren, konservativen und privilegierten Professoren (bewusst nicht gegendert). Aber diese Kritik zeigt mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Denn wenn sie mir schreiben, heißt das doch auch: Sie haben sich mit mir und meinen Inhalten auseinandergesetzt. Sie haben sich die Zeit genommen, zu reagieren. Vielleicht schauen sie dann nächste Woche noch zwei weitere Videos an, dann vier, dann zehn. Und vielleicht bewegt sich etwas. Steter Tropfen höhlt den Stein.
Zur Autorin
Greta Lührs
Greta Lührs ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre.