Beitrag vom
21.02.2023
Jahresprogramm 2022
Nur, wo es nicht weh tut
Ein Beitrag von Susanne Ziethen
Seit unserer gemeinsamen Exkursion nach Finnland sind schon über zwei Monate vergangen. Es war eine intensive Zeit, die ein neues Gruppengefühl zwischen den Teilnehmenden am Jahresprogramm hat entstehen lassen. Sicher bin ich deshalb nicht die Einzige, die sich gespannt in den ersten Online-Termin unseres Winterprogramms einloggt und schnell auf den Kacheln der Zoom-Konferenz durch die bekannten Gesichter klickt. Gäste des Abends sind Mandy Singer-Brodowski und Jorrit Holst vom Institut Futur, angesiedelt am Arbeitsbereich Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung der Freien Universität Berlin. Sie wollen mit uns über „Nachhaltigkeit und BNE im deutschen Hochschulsystem. Konzeptionelle Perspektiven und aktuelle Ergebnisse aus dem BNE-Monitoring“ diskutieren.
Mandy Singer-Brodowsky beginnt ihren Statusbericht über Nachhaltigkeit im deutschen Hochschul- und Wissenschaftssystem mit einer Übersicht über Grundsatzfragen und -debatten zum Themenfeld „Transformative Wissenschaft“. Nachhaltigkeit sei nicht nur wissenschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher Impact zu verdanken: In vielen Disziplinen habe sie eine innerwissenschaftliche Kontroverse über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft angestoßen und durch öffentliche Diskurse zur Demokratisierung von Wissenschaft beigetragen, hochschulische Profilierungsbemühungen befördert und ganz konkret verschiedene Förderformate – wie etwa Reallabore – entstehen lassen.
„…sie würden investieren, wenn…“
Nachhaltigkeit ist zwar an Hochschulen angekommen, allerdings deutlich mehr auf proklamatorischer denn auf Umsetzungsebene.
Zu langsame Fortschritte
Im zweiten Teil des Vortrags macht Jorrit Holst die Dokumentenanalyse des nationalen Monitorings Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) transparent, die mittels Schlagwortanalysen die Verankerung von BNE in der Struktur der vier formalen Bildungsbereiche verdeutlichen will. Mit dem Unterziel 4.7 der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals) haben die Vereinten Nationen im Jahr 2015 Bildung für nachhaltige Entwicklung erstmals als eigenständiges Handlungsfeld definiert. Bis 2030 sei sicherzustellen, dass „alle Lernenden die für nachhaltige Entwicklung notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, unter anderem durch Bildung für nachhaltige Entwicklung“.
Holst konstatiert nach der Analyse von gut 11.000 Dokumenten aus den vier Bereichen formaler Bildungsbereiche erkennbare, aber deutlich zu langsame Fortschritte. Zudem sei BNE zu oft nur als „add-on“ in einzelnen Modulen verankert und fehle vor allem in der Aus- und Weiterbildung von Multiplikator*innen. Der Referent präsentiert für den Hochschulbereich vor allem die explizite Adressierung von BNE in den Hochschul-Gesetzgebungen Bayerns und Hessens als Positivbeispiele. Obgleich sich in vielen Dokumenten aller Bundesländer Nachhaltigkeit als Begriff finde, sei es bei genauerer Analyse selten mehr als ein Schlagwort: zu allgemein, zu unkonkret, zu wenig auf Handlungsbereiche bezogen, kritisiert Holst. In der Lehre, so Holsts Analyseergebnis, sei BNE nach wie vor unterrepräsentiert und kaum als Querschnittsthema verankert. Als besonders wichtiges Entwicklungsfeld macht er den Bereich hochschuldidaktischer Fort- und Weiterbildungen aus, in dem nach der Analyse keine systematische Förderung von BNE erkennbar sei.
Viele Wenn’s und Aber’s
Holst schließt seinen Vortrag mit Einblicken in die quantitative Studie von Julius Grund und Antje Brock. Sie demonstrieren eindrücklich die Diskrepanz zwischen aktueller und gewünschter Umsetzung von Nachhaltigkeitsthemen an Hochschulen. Zwar sind Fortschritte erkennbar – aber Hochschulen erreichen Studierende mit Nachhaltigkeitsthemen deutlich weniger, als dies etwa Familie oder Medien gelingt. Besonders erschreckend sind die Zahlen zu BNE-Themen im Lehramtsstudium: 65% der Studierenden geben an, niemals mit Nachhaltigkeitsthemen in Berührung gekommen zu sein.
In dieser Gruppe wird weder der Kopf in den Sand gesteckt noch ausschließlich diskutiert.
Diese viele Wenn‘s und Aber‘s könnten frustrieren. Der parallel laufende Chat und die Diskussion zeigen aber: In dieser diskussionsfreudigen Gruppe wird weder der Kopf in den Sand gesteckt noch ausschließlich diskutiert: Hinweise auf Projekte und Tagungen von Gruppenmitgliedern, Publikationen, neue Umsetzungsideen – sie alle motivieren, gemeinsam weiter zu denken, weiter zu arbeiten und Ideen umzusetzen. Ich bin sicher, den ein oder anderen Punkt werden wir auch aufgreifen, wenn wir uns zu einem Vor-Ort-Workshop treffen.
Zur Autorin
Dr. Sanne Ziethen
Seit 2015 lehrt und forscht sie am Institut für Geschichte der Stiftung Universität Hildesheim zu Themen der Emotions- und Wirtschaftskrisengeschichte sowie zu Selbst- und Fremdbildforschung. In der Lehre entwickelte sie innovative Seminarformate und erhielt den Preis für hervorragende Lehre für das Studienjahr 2020/21. Seit 2021 ist sie Mitarbeiterin des Projekts Digital C@MPUS-le@rning. Dort ist sie zuständig für Transfer, didaktische Beratung, Veranstaltungen und Kommunikation. Außerdem ist die zuständig für die Qualifikation der le@rningLOTSEN – studentischen Lotsen, die als Multiplikator:innen für gute (digitale) Lehre tätig werden sollen.