Beitrag vom
25.03.2022
Infopoint Hoschullehre
Zutaten für Handlungen kennen
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
Warum ist Kompetenzorientierung in der Hochschullehre so wichtig, Frau Thielsch?
Angelika Thielsch: Weil wir wollen, dass die Studienabsolvent:innen in der Lage sind, etwas mit dem erworbenen Wissen anzufangen. Sie sollen handlungsfähig sein. Sie sollen sich nach dem Studium als wirkmächtige Individuen in das Berufsleben und in die Gesellschaft einbringen und ihr Wissen aus dem Studium anwenden können. Das steht schon lange im Fokus in der Lehre. Heute wird die Bedeutung mit dem Begriff der Kompetenzorientierung allerdings viel klarer gefasst als früher.
Was sind eigentlich Kompetenzen?
Kompetenzen lassen sich nicht über Frage-Antwort-Situationen erfassen.
Thielsch: Wenn wir von Kompetenzen sprechen, dann meinen wir die Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen, also die individuellen Dispositionen einer Person, die es ihr ermöglichen, in einer bestimmten Situation zielgerichtet handeln zu können. Das macht den Kompetenzerwerb auch so schwer überprüfbar. Kompetenzen lassen sich nicht über Frage-Antwort-Situationen erfassen. Denn bei Kompetenzen geht es vielmehr um das komplexe Zusammenspiel von der Wahrnehmung einer Situation, meinem Wissen über diese Situation und die damit verbundenen Emotionen – und der Fähigkeit, dann zielgerichtet zu agieren. Das Entscheidende ist die Handlungsfähigkeit; sie steht im Zentrum.

Zur Person
Dr. Angelika Thielsch
ist Mitarbeiterin der Hochschuldidaktik der Georg-August-Universität Göttingen.
Foto: J. Michaelis
Sie sprechen das Wissen an, das auch in der Lehre eine wichtige Rolle spielt. Wie unterscheidet sich Wissen von Kompetenzen?
Thielsch: Ich möchte dazu ein Beispiel nennen. Auch wenn ich theoretisch genau weiß, wie ich ein Rad schlage, heißt das nicht, dass ich die Kompetenz habe, wirklich ein Rad zu schlagen. Mein Wissen über die Handlungsabläufe und Bewegungen sind sicherlich wichtig, aber sie sind doch nur ein Element. Wissen alleine reicht hier nicht, um handeln zu können. Kompetent ist, wer in einer bestimmten Situation auf das passende Wissen zurückgreifen und dann zielgerichtet handeln kann.
Ist Wissen damit die Voraussetzung für Kompetenzen?
Thielsch: Ja und nein. Und irgendeine Art Vorwissen haben wir im Grunde ja auch immer. Die Frage ist, wann und wodurch wir neues Wissen erlangen. Viele Lerntheorien verweisen beispielsweise darauf, dass Lernen manchmal leichter fällt, wenn man zunächst etwas einfach nur ausprobiert, ohne zuvor viele Informationen dazu bekommen zu haben. Hier machen Studierende zunächst eine konkrete Erfahrung, indem sie etwas versuchen und merken, ob und wie das funktioniert – oder eben nicht. Dieses Erfahrungswissen kann dann mit abstrakten Informationen angereichter werden, die zu erklären helfen, warum etwas auf eine bestimmte Art abgelaufen ist. Was ich sagen will: Studierende brauchen nicht immer eine Theorie zu Beginn. Sie brauchen vielmehr eine Art Anknüpfungspunkt, um gut in das Lernen und einen Kompetenzentwicklungsprozess zu starten.
Was bedeutet es, Lehre kompetenzorientiert zu konzipieren?
Man kann Kompetenzen nicht vermitteln, weil Studierende diese selbst erwerben müssen. Lehrende können Studierenden Informationen geben – was diese dann damit machen, liegt bei ihnen.
Thielsch: Man kann Kompetenzen nicht vermitteln, weil Studierende diese selbst erwerben müssen. Lehrende können Studierenden Informationen geben – was diese dann damit machen, liegt bei ihnen. Diese Erkenntnis ist zentral. Lehrende sollten sich daher zunächst immer wieder vor Augen führen: Nur weil sie etwas erklärt haben, ist es nicht gelernt. Und selbst wenn die Studierenden neue Informationen gelernt, also zu ihrem Wissenskonstrukt hinzugefügt haben, dann sind sie nicht automatisch in der Lage, diese in einer Situation zielgerichtet anzuwenden. Deshalb ist es so wichtig zu überlegen, wie man Handlungsmöglichkeiten in die Lehre einbauen kann. Immer mit dem Fokus darauf, dass Kompetenz erst in der Performanz, im Handlungsvollzug sichtbar wird. Und hierfür gilt es, Möglichkeiten in die Lehre zu integrieren.
Wie kann das konkret aussehen?
Thielsch: Dafür sind zwei Aspekte wichtig. Erstens muss ich mir bereits im didaktischen Design überlegen, wann und wodurch die Studierenden in der Lehrveranstaltung neue Informationen anwenden können. Das kann in kürzeren Aufgaben erfolgen, zum Beispiel in einer Kleingruppendiskussion, um das zuvor Thematisierte für einen bestimmten Fall auszudifferenzieren. Aber es geht auch komplexer. In den Wirtschaftswissenschaften kommen beispielsweise oft Planspiele zum Einsatz. Die Studierenden müssen darin einerseits auf ihr Wissen zugreifen, andererseits aber auch mit unerwarteten Situationen umgehen, umdenken, neue Strategien entwickeln. Auch die Arbeit in Simulationen oder in Laborpraktika wären hier Beispiele. Wie die Studierenden in einer Veranstaltung ins Handeln kommen können, hängt vom Fachkontext und Lehrformat ab und kann damit sehr unterschiedlich aussehen.
Zweitens sollten Studierende nicht erst am Ende einer Lehrveranstaltung ein Feedback zu ihrem Handeln erhalten. Vielmehr sollte es bereits im Prozess des Lernens Möglichkeiten für die Studierenden geben, eine Rückmeldung zu bekommen. Das ist im Zusammenhang mit Prüfungen besonders wichtig, aber das würde uns jetzt in eine andere Richtung führen.
Was sind Erfolgskriterien für eine gute kompetenzorientierte Lehre?
Mir ist wichtig, die Studierenden darauf vorzubereiten, auch mit Unsicherheit umzugehen.
Thielsch: Für mich war eine Veranstaltung erfolgreich, wenn Studierende am Semesterende nicht denken, dass sie das perfekte Rezept für alles haben – sondern vielmehr alle Zutaten. Anders gesagt: Wenn sie in der Lage sind, in verschiedenen Situationen mit dem Gelernten zu arbeiten und je nach Bedarf etwas Anderes daraus zu erschaffen. Mir ist wichtig, die Studierenden darauf vorzubereiten, auch mit Unsicherheit umzugehen. Es ist skurril. Wir haben ein strikt festgelegtes Curriculum. Aber die Situationen, in denen die Studierenden hinterher arbeiten, können wir oft nicht genau antizipieren. Die Welt verändert sich sehr schnell. Die Studierenden sollten im Studium daher Handwerkszeug bekommen, um auch in Situationen, die sie noch gar nicht absehen können, handeln zu können.
Lassen Sie uns auf Grundlagenveranstaltungen schauen. Wie kann Kompetenzorientierung darin erfolgreich zum Tragen kommen?
Thielsch: Grundlagenveranstaltungen haben eine ganz besondere Funktion, weil die Studierenden in ihnen den Kontakt zum Studium aufnehmen. Sie machen ihre ersten Erfahrungen, wie Studieren und akademisches Handeln funktioniert. Wenn dort der Fokus nur auf den Wissenserwerb gelegt wird, sehe ich zwei Probleme: Erstens erwerben die Studierenden zwar unglaublich viel neues Wissen, das verbleibt aber passiv. Sie haben oft gar nicht die Chance, es mit aktivem Handeln zu verbinden. Dann ist nur Auswendiglernen gefördert worden, aber nicht tiefenorientiertes Lernen. Zweitens, und das wiegt für mich noch schwerer: Grundlagenveranstaltungen prägen das Bild von Hochschule. Geht es nur um Wissen, entsteht der Eindruck, an Hochschulen stehe das Auswendiglernen im Zentrum. Und das wollen wir ja gerade nicht. Es soll nicht die Vorstellung entstehen, es gehe nur darum, unglaublich viele neue Informationen kennenzulernen, abzuspeichern und wiederzugeben. Vielmehr soll es doch darum gehen, sich mit den vielfältigen neuen Informationen so auseinanderzusetzen, dass sie in ganz unterschiedlichen Situationen wohlüberlegt und kritisch hinterfragt eingesetzt werden können. Das macht ein Studium aus.
