Beitrag vom
19.09.2022
Raumfahrt in der Lehre
Vom Astronauten lernen
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
Sie konzipieren eine komplette Raumstation, von der ersten Idee bis zur Nutzung: 40 Studierende aus der ganzen Welt treffen sich jährlich beim Space Station Design Workshop SSDW der Universität Stuttgart und planen die Arbeit im All – so realistisch wie möglich. In zwei Teams arbeiten sie kompetitiv. „Sie müssen sich auf einen Plan einigen. Und dann geht es darum, mit den anderen im Team um die begrenzten Ressourcen im positiven Sinne zu streiten“, sagt Reinhold Ewald. Der Professor für Astronautik und Raumstationen ist jedes Jahr mit großer Begeisterung dabei. „Für die Teilnehmenden ist es eine direkte Vorwegnahme, was in Raumfahrtprojekten wirklich abgeht – man kann nicht frei von Ressourcenmangel ein perfektes Projekt planen. Man muss viele Aspekte im Auge haben, das Gewicht des Materials, das Volumen des Raumschiffs und vieles mehr.“
„Man kann nicht frei von Ressourcenmangel ein perfektes Projekt planen.“
Ganz praktisch machen die Teilnehmenden Erfahrungen mit System Engineering, Projektmanagement und interdisziplinärer Teamorganisation. Mit dabei sind nämlich Studierende und Young Professionals vieler Länder und aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen, von Antriebs- und Orbitalspezialisten bis zu Architektinnen und Journalistinnen. Die Woche im Sommer sei für alle sehr intensiv. Anders als die amerikanischen Studierenden seien die deutschen oft zunächst zurückhaltend, denn die Projektsituation sei für sie ungewohnt. „Im deutschen Studium geht es viel um Wissen und wenig um Anwendung. Wir fordern daher in der Workshopwoche alle gezielt auf, sich einzubringen. Jeder und jede kann Fachkenntnisse anwenden“, sagt Ewald. „Manchmal kommen auch versteckte Talente zu Tage.“
Lange Bewerbungsphase
Wahrscheinlich hatten alle Teilnehmenden diesen Kindheitswunsch: Astronaut:in ist einer der Traumberufe. Reinhold Ewald sieht das ein bisschen nüchterner. Vor mehr als 35 Jahren sah er zufällig im Fernsehen, dass Nachwuchs für das deutsche Astronautenteam gesucht wurde. „Allgemein interessiert an Raumfahrt war ich schon vorher, aber das war der erste Moment, in dem ich mich konkret damit beschäftigt habe“, erzählt er heute. Nach einem Physikstudium war er 1985 gerade dabei, seine Promotion in Radioastronomie abzuschließen. „Das passte sehr gut, also habe ich mich beworben.“
Der Prozess zog sich lange hin, mit 12 weiteren Bewerbern nahm Ewald schließlich an der Finalrunde teil. Und wurde nicht genommen. Eine Enttäuschung? „Ach wissen Sie: Das ist eine entscheidende Voraussetzung für eine solche Bewerbung, sage ich meinen Studierenden heute. Wenn es nicht klappt, darf man nicht sein Leben als gescheitert ansehen“, erläutert Ewald. „Wenn man nicht genommen wird, wurde nicht so jemand wie man selbst gesucht. Man hat Qualitäten – aber die waren in dem Moment nicht gefragt.“
Sein Thema hatte er allerdings gefunden. Er arbeitete als Projektmanager beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. Und die Sache mit dem Flug ins All war doch noch nicht gelaufen: 1990 wurde er in das deutsche Astronautenteam berufen. Im Yuri A. Gagarin Kosmonauten-Ausbildungszentrum bei Moskau trainierte er für eine deutsch-russische Mission. An der Mission 1992 zur Station MIR war er als Mann am Boden beteiligt.
Zur Person
Prof. Dr. Reinhold Ewald
©Institut für Raumfahrtsysteme der Universität Stuttgart
Aufgabe zu erfüllen
Fünf Jahre später war es dann soweit: Anfang 1997 flog Ewald als Wissenschaftskosmonaut mit der russischen Sojus TM 25 zur MIR, auf der er 18 Tage verbrachte. Dort führte er unter anderem biomedizinische und materialwissenschaftliche Experimente durch.
„Wir werden sehr technisch ausgebildet und gehen auch so technisch an die Sache heran. Das ist der Unterschied zu den Touristikflügen, die es inzwischen so gibt: Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen“, berichtet Ewald. „Wenn ich auf dem Flug angefangen hätte für die Kamera herumzuwinken, wäre die Kapsel nie an der Raumstation angekommen. Ich hätte das System gestört.“
Für ihn standen die Experimente im Fokus, er arbeitete hauptsächlich an Forschung zum Salzhaushalt im Körper des Menschen. „Die Sensationen, also Sinneseindrücke, die man auf der Erde nicht erleben kann, müssen zurücktreten, solange die Arbeit nicht getan ist. Das klingt jetzt trocken, aber damit kommen wir Astronauten gut durch.“
Dennoch erinnere er sich gerne an beeindruckende Erlebnisse. „Das Wort ‚global‘ erschließt sich aus dem All völlig neu. Wenn man die Erde in 90 Minuten umrundet, sieht man die Interdependenzen, zum Beispiel zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre.“
Begeisterung für das Thema entscheidend
Es sind Erfahrungen wie diese, die Ewald in seinen Lehrveranstaltungen vermitteln will. Nach seiner Mission übernahm er Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Seit 2015 hat er die Professur in Stuttgart inne. „Ich will mit praktischen Beispielen Neugier wecken für das Thema Raumfahrt“, so beschreibt er sein Ziel. „Gute Lehre lebt von Begeisterung. Ich komme bei den Studierenden authentisch an, wenn ich darüber spreche, was mich selbst begeistert.“ Das habe er von seinen Lehrern gelernt und das wolle er nun auch selbst umsetzen.
„Warten Sie mal einen Moment.“ Der 65-Jährige, der an einem heißen Sommertag per Videokonferenz für das Interview zugeschaltet ist, verschwindet kurz aus dem Bild. Er kommt mit einem Handschuh wieder, schwarz-weiß, dickes Material, er sieht sehr schwer aus. „Den bringe ich auch immer in meine Vorlesung mit“, sagt Ewald. „Mein linker Handschuh, er war mit mir im All. Ich durfte ihn nach der Mission zur Erinnerung behalten. Die Studierenden finden es immer sehr interessant, Weltraumhardware anzufassen.“
Orbitalflugsimulatoren mit VR-Brillen sind auch im Raumfahrtstudium längst Standard. „Sie ermöglichen eine gute Ausbildung. Aber wir machen auch weiterhin vieles analog, Raumfahrt muss greifbar bleiben.“
Allerletzte Ressource Mensch
„Die Sojus ist ein verblüffendes Beispiel, wie man sozusagen mit Stoppuhr und Lineal ins All fliegen kann.“
Denn schließlich werden die allermeisten der Studierenden nicht selbst ins All fliegen. „Ich sage jedem und jeder, er oder sie solle es einfach versuchen und sich bewerben. Dann muss man sich nicht vorwerfen, es nicht wenigstens probiert zu haben“, sagt Ewald.
Und zumindest einmal hat er es ja auch schon anders erlebt. Die Italienerin Samantha Cristoforetti, europäische Astronautin mit Langzeitflugrekorden, war 2014 und dann wieder 2022 im All. In ihrem Studium hatte sie Ewalds Vorlesung in München gehört. „Ich habe sie vor ihrem Flug getroffen und wollte mich vorstellen“, sagt Ewald. „Sie hat sich an mich erinnert und meinen Kurs noch gut im Kopf. Darüber habe ich mich sehr gefreut.“