Beitrag vom
04.07.2022
Infopoint Hochschullehre
Plenum statt Vorlesung
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
„Und jetzt die Frage: Wie findet man eigentlich Primzahlen?“ Der Mann im schwarzen Heavy Metal-Shirt und mit langen lockigen Haaren fährt die Tafel hoch. „Ich habe da mal was vorbereitet“, sagt er und macht eine kurze Pause. „Wie in einer Super-Kochsendung.“ Die Studierenden im Hörsaal lachen. Dieses Video wurde auf Youtube fast zwei Millionen Mal angeschaut.
Der Mann in schwarz ist Christian Spannagel. Er ist Professor für Mathematik und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Informatik und Implementierung neuer Medien an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Er bildet also künftige Lehrer:innen aus. Auf seinem Youtube-Kanal erklärt er zahlreiche Themen aus der Welt der Mathematik. Bei den Primzahlen geht es zum Beispiel um das Sieb des Eratosthenes. Oder Hasen sind Thema. „Jetzt müssen Sie ganz leise sein, sonst verscheuchen Sie die Häschen. Und dann können wir nicht richtig zählen“, sagt er zu Beginn der Vorlesung. Die Studierenden lachen, werden dann tatsächlich ganz ruhig. In diesem Film geht es um die Fibonacci-Folge.
Einfach mal zurückspulen
Viele seiner Videos sind Renner auf Youtube, mehrere haben sechs- oder gar siebenstellige Abrufe. Mehr als 110.000 Abonnenten hat er gesammelt, insgesamt wurden seine Filme rund 20 Millionen Mal aufgerufen. Das alles hatte Spannagel ursprünglich gar nicht im Sinn.
Vor mehr als zehn Jahren lud er sein erstes Video hoch. „Ich wollte Studierende, die in der Vorlesung nicht mitkommen, damit unterstützen“, erzählt er. „Gerade in Mathe haben doch viele das Problem: Sie verstehen etwas nicht, würden gerne auf Pause drücken oder zurückspulen. Aber das geht im Hörsaal ja nicht.“ Eine studentische Hilfskraft filmte seine Vorträge und er stellte sie ins Netz. „Ich habe mich für Youtube entschieden, weil das praktisch war. Damals war es noch lange nicht üblich, dass Hochschulen eigene Videoplattformen hatten. Und so konnte jeder die Videos mit jedem Endgerät abrufen.“
Zur Person
Prof. Dr. Christian Spannagel
Professor für Mathematik und ihre Didaktik mit Schwerpunkt Informatik und Implementierung neuer Medien an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg
Fragen im Plenum
Dass er auch das Konzept seiner Grundlagenvorlesungen verändern könnte, diese Idee sei ihm erst später gekommen, erinnert sich Spannagel. „Am Ende des Semesters hatte ich meine komplette Vorlesung aufgezeichnet. Ich habe mir gedacht, jetzt muss ich die auch nicht mehr jedes Semester aufs Neue halten.“ Denn in den Grundlagenvorlesungen in der Mathematik ändere sich im Laufe der Zeit wenig.
„Ich sehe direkt, was den Studierenden schwerfällt. Ich kann dann gezielt unterstützen, anstatt wie in einer klassischen Vorlesung mein Programm in meinem Tempo abzuspulen.“
Deshalb stellte er seine Mathematikvorlesung auf den Kopf, wie es in einem Video heißt. Und zwar nach dem Prinzip des Inverted Classrooms. Die Studierenden bereiten sich im ersten Schritt alleine zu Hause vor. In einer Kleingruppe in einem Tutorium können sie anschließend Fragen klären und Aufgaben rechnen. Was dann an Fragen bleibt, diskutiert Spannagel mit ihnen in der wöchentlichen Vorlesung. Statt eines Vortrags von ihm wird daraus ein Plenum, wie er es nennt. Die Vorlesung in großem Kreis steht also nicht am Anfang, sondern am Ende des Lernprozesses.
Aufgaben im Zentrum
Damit habe er im Laufe der Jahre sehr gute Erfahrungen gemacht, berichtet Spannagel. Besonders wichtig: Alles beginnt immer mit Aufgaben. Die stellt er seinem Kurs Woche für Woche. Ein Mittel, um sie zu lösen, sind passende Videos, die die Studierenden anschauen können. Im Tutorium finden sie weitere Hilfestellung und können dann schließlich in der großen Runde im Plenum offene Fragen stellen oder diskutieren. Eine Anwesenheitskontrolle gibt es nicht, aber wenn die Studierenden zur Vorlesung kommen, sind sie ausdrücklich aufgefordert, ihre erarbeiteten Lösungen mitzubringen. „Das führt dazu, dass sie die Videos schauen und sich wirklich vorbereiten. Kommt man unvorbereitet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass einem das Plenum nichts bringt.“
Ein Vorteil: Die Sitzungen seien ergiebiger als klassische Vorlesungen, sagt Spannagel. „Ich sehe direkt, was den Studierenden schwerfällt, an welcher Stelle sie hängen bleiben. Ich kann dann gezielt unterstützen, anstatt wie in einer klassischen Vorlesung an der Tafel mein Programm in meinem Tempo abzuspulen.“
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Prozesse gut geeignet
Besonders gut eigne sich diese Methode für Grundlagenveranstaltungen, sagt Spannagel. „Die Inhalte ändern sich nicht ständig und ich kann die Videos immer wieder einsetzen.“ In den MINT-Fächern seien vor allem Prozesse passende Themen. „Wenn der Lehrende im Video einen mathematischen Beweis führt, ist das viel sinnvoller als nur das Ergebnis auf Papier zu lesen. Er demonstriert es Schritt für Schritt, das hilft beim Verstehen des Prozesses.“
Auf Youtube wurde der Professor übrigens eher nebenbei berühmt. Ein Influencer teilte 2018 sein Video zu den Primzahlen, die Abrufzahlen schossen sprunghaft in die Höhe. Der Youtube-Algorithmus tat ein übriges, auch andere Filme wurden populär. „Das freut mich natürlich, ändert aber nichts Grundsätzliches an meiner Arbeit“, sagt Spannagel.
Guter Ton entscheidend
Was rät er Lehrenden, die darüber nachdenken, Videos einzusetzen? Vor allem sollten sie sich vom Gedanken verabschieden, ein Film müsse perfekt gemacht sein, sagt Spannagel. „Der Ton muss gut sein, sonst kann man einfach nicht zuhören. Aber eine Hollywood-Produktion braucht es wirklich nicht.“
„Seien wir mal ehrlich, eine Vorlesung wie zur Einführung in die Algebra ist auch für mich spätestens beim vierten Mal eher langweilig. Nun aber löse ich mit den Studierenden Aufgaben. Das hält die Sache spannend.“
Darüber hinaus empfiehlt er, nicht eine komplette anderthalbstündige Vorlesung online zu stellen. „Es ist sehr hilfreich, ein Thema in kleinere didaktische Einheiten zu zerlegen. Das macht Arbeit, die sich aber sehr lohnt.“ Er selbst streut gerne mal einen Witz oder einen flotten Spruch ein. „Das braucht es aber nicht. Ich rate jedem, einfach er selbst zu sein und seinen Inhalt so vorzutragen wie in der Offline-Vorlesung.“
Am Anfang sei der Aufwand sicher recht hoch, Filme zu produzieren. „Aber man gewöhnt sich daran und es geht schneller.“ Und schließlich habe die Methode auch für die Lehrenden einen entscheidenden Vorteil. „Seien wir mal ehrlich, eine Vorlesung wie zur Einführung in die Algebra ist auch für mich spätestens beim dritten, vierten Mal eher langweilig. Nun trage ich aber nicht mehr Informationen vor, sondern löse mit den Studierenden Aufgaben. Das macht mir Freude und hält die Sache spannend.“
Fehler benannt
Und wenn ihm bei der Aufzeichnung doch mal ein Fehler unterläuft, den er erst hinterher bemerkt? „Jeder macht Fehler, manchmal sogar Professoren“, sagt Spannagel und lacht schallend. „Auf gar keinen Fall lösche ich dann peinlich berührt das Video.“ Stattdessen thematisiere er den Fehler, zum Beispiel mit einer Text-Einblendung. In einem seiner Videos kommt an einer Stelle die Einblendung „Gleich kommt ein Fehler“. Ob die Studierenden gut aufpassen und den wohl bemerken?