Beitrag vom
30.03.2023
Interview mit Gesche Joost
Zusammenarbeit im Testmodus
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
Eine neue Welt mit ungekannten Zugangsmöglichkeiten und unerreichter Chancengerechtigkeit: In den neunziger Jahren seien Sie eine digitale Enthusiastin gewesen, haben Sie mal geschrieben. Wenn Sie nun nicht mehr enthusiastisch darauf blicken, wie sehen Sie es heute, Frau Joost?
Gesche Joost: Die Digitalisierung war für mich damals das Versprechen von unbegrenzter Teilhabemöglichkeit weltweit – das fand ich großartig. Ich bin durch ein Tal der Tränen gegangen, als in den folgenden Jahren die vielen Schattenseiten sichtbar wurden. Und jetzt habe ich sozusagen den Scheitelpunkt der Kurve hinter mir gelassen, es geht aufwärts. Ich bin immer noch eine Verfechterin der Digitalisierung, weil sie so große Möglichkeiten schafft. Ich habe aber ein nachhaltigeres, realistischeres Bild.
„Ich bin immer noch eine Verfechterin der Digitalisierung.“
Was ist das zentrale Problem?
Joost: Wir müssen gesamtgesellschaftlich schauen, wie wir gerade in der Bildung Zugangs- und Chancengerechtigkeit hinbekommen. Es gibt eine digitale Spaltung. Ich dachte in den neunziger Jahren, die Technik selbst löst die Zugangsfrage. Open Source ist ja mehr als Technik, das Prinzip bedeutet, dass alle auf alle Informationen und Möglichkeiten Zugriff haben könnten und sie gemeinsam weiterentwickeln. Und ich dachte, das sei schon die Lösung, die Möglichkeit an sich würde den Zugang regeln. Heute sehe ich, dass wir viele soziale Faktoren ignoriert haben. Einige Gruppen waren schnell abgehängt, alte Menschen etwa oder sozial benachteiligte Kinder. Auch international haben sich die Versprechen nicht eingelöst – es gibt weiterhin ein krasses Gefälle zu Ländern des globalen Südens, die kaum vom versprochenen Aufschwung durch Digitalisierung profitieren können.
Zur Person
Prof. Dr. Gesche Joost
Gesche Joost ist Professorin für Designforschung an der Universität der Künste Berlin und leitet das Design Research Lab. Sie ist Vorsitzende des Einsteincenter Digital Future. Sie forscht zur digitalen Gesellschaft und gestaltet neue Formen der Mensch-Technik-Interaktion am DFKI, dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz, und am Weizenbaum Institut für die vernetzte Gesellschaft. Sie ist Mitglied im Aufsichtsrat von SAP, ING DiBa und OttoBock.
Foto: Till Vill
Sie sagen, Sie haben den Scheitelpunkt der Enttäuschung durchschritten – was macht Ihnen Hoffnung?
Joost: Wir haben es in der Coronakrise geschafft, an Schulen und Hochschulen auf digitalen Unterricht umzustellen. Gerade am Anfang der Pandemie, als die Gesellschaft in eine Schockstarre verfallen war, ging es im Bildungssystem ganz schnell. Das finde ich toll. Diese Zeit hat einen Innovationsschub gebracht. Und jetzt erleben wir im Alltag, dass wir das Lehren und Lernen neu gestalten müssen: Präsenz, digital, hybrid – das muss neu austariert und zusammen gedacht werden.
Wie stehen wir in Deutschland aus Ihrer Sicht da?
Joost: Ich glaube, wir sind gerade in einem Testmodus der Zusammenarbeit. Und einen solchen Testmodus finde ich immer sehr gut, weil man daraus ganz Neues lernt. Ich beobachte allerdings, dass viele große Unternehmen Schwierigkeiten haben. Viele haben mit der Coronapandemie komplett auf Home Office umgestellt, „working from anywhere“. Das hat in der Coronapandemie super geklappt, ich war davon gleichermaßen erstaunt und begeistert. Viele merken aber nun, dass die Teamkultur verloren geht, wenn die Mitarbeitenden gar nicht mehr ins Büro kommen. Sie suchen jetzt nach neuen Wegen.
„Wir müssen Lehre und Lernen neu denken und für den wichtigen Austausch Räume schaffen.“
Im Bildungssystem waren wir am Anfang der Coronapandemie total agil. Jetzt fallen wir gerade zu oft wieder zurück in den Trott, das sollten wir aufhalten. Das Schlimmste wäre, jetzt einfach wieder im „business as usual“-Modus zu arbeiten. Wir sollten auf dem Innovationspfad weitergehen. Wir haben gezeigt, dass wir innovativ sein können. Wir müssen Lehre und Lernen neu denken und für den wichtigen Austausch Räume schaffen. Es geht nun darum, mit den neuen Möglichkeiten zu spielen: Formate ausprobieren, die Studierenden einbeziehen, Erfahrungen sammeln.
An den Schulen in Deutschland passiert das so gut wie gar nicht, das finde ich bedauerlich. Ich war kürzlich in Singapur und habe dort etwas sehr Spannendes gesehen. Digitale Formate in der Lehre sind ab der Grundschule vollkommen normal, die Kinder lernen dort auch schon früh zu programmieren, als „playful coding“. Ein Format finde ich besonders interessant: Schüler:innen im Alter von 14, 15 Jahren können alle zwei Wochen einen Tag lang von zu Hause aus arbeiten. Es geht dann um Megathemen wie zum Beispiel Nachhaltigkeit, sie arbeiten selbstorganisiert dazu. So etwas finde ich toll, wir sollten aus der Coronazeit innovative Formate mitnehmen und weiterentwickeln.
Drei Tage rund um die Zukunft der Hochschulbildung: Unter dem Motto “Heads Up!” findet das University:Future Festival (U:FF) vom 26. bis 28. April 2023 in Präsenz sowie im digitalen Raum statt. Gesche Joost hält auf dem Festival eine Keynote.
Wie kann das an Hochschulen gelingen?
Joost: Es geht darum, die neuen Möglichkeiten zu leben. Ich mache beispielsweise mein Kolloquium als reine Online-Veranstaltung, weil ich so internationale Gäste einladen kann. Die Effizienzgewinne im Virtuellen sind sehr groß. Aber man merkt, dass man damit nur eine Ebene des Austauschs anspricht. Wir probieren deshalb in der Hochschule jetzt gezielt Formate aus, um das Informelle zu stärken. Wenn wir große Innovationsthemen besprechen, setzen wir uns ganz bewusst zusammen und bauen Prototyping als Denkmodelle und proof of concept – und parallel kochen wir gemeinsam. Dabei entstehen viele Ideen und wir stärken die Kultur der Zusammenarbeit. Im Französischen heißt es „la dérive“, das Umherschweifen. So kann man im Gespräch auch eine ganz andere Richtung einschlagen. Außerdem brauchen wir Raum für zufällige Begegnungen. Es kommt darauf an, alle Möglichkeiten zu nutzen – so wird es reichhaltiger als zuvor. Und ich wünsche mir, dass wir uns als Lehrende mehr über unsere Erfahrungen damit austauschen.