Beitrag vom
14.02.2022
Interview mit Ulrike Cress
„Aufholbedarf bei Digitalisierung“
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
Mit dem Beginn der Coronapandemie war digitale Lehre vor rund zwei Jahren ganz plötzlich an Hochschulen gefragt – was hat sich seitdem getan, Frau Cress?
Ulrike Cress: Am Anfang war es chaotisch. Die Hochschulen waren nicht vorbereitet. Der Großteil der Lehrenden hatte noch nie online gelehrt. Und selbst die digitalen Lernmanagementsysteme, die es schon länger gab, waren kaum etabliert. Innerhalb kürzester Zeit haben die Hochschulen dann nachgeholt und ganz viel gemacht. Die Pandemie ist ein riesiger Treiber der Digitalisierung an Hochschulen. Viele Lehrende waren gezwungen, sich in das Thema einzuarbeiten. Dadurch haben sich auch nicht nur die besonders Technikaffinen damit beschäftigt. Es wurde zum Thema für alle. Insgesamt muss man aber sagen, dass die digitale Lehre oft nicht didaktisch optimal war. Viele haben einfach Vorlesungen aufgenommen, die sich Studierende anhören konnten. Es blieb eine rezeptive Angelegenheit.
Gilt das auch aktuell noch?
Nun sind die Dozierenden gewohnt, mit Technik umzugehen, jetzt muss es um gute Settings in der Lehre gehen.
Cress: Es besteht weiterhin Aufholbedarf. Das Potenzial, das Medien in der Lehre haben, ist ja gerade nicht das Rezeptive. Sie können Studierende aktivieren, Kollaboration anstoßen. Diese Möglichkeiten der digitalen Medien sind bislang meist wenig zum Tragen gekommen. Es blieb oft dabei, dass die Online-Lehre nur als Ersatz der Präsenz-Lehre gesehen wurde. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Als die Hochschulen geschlossen waren, fehlte eine Kompensation der persönlichen Begegnungen. Das gibt es bis heute kaum. Kollaborative Formate sind weiter eine Seltenheit, es gibt vielleicht mal eine Online-Sprechstunde. Wenn die Pandemie vorbei ist, muss es in diesem Bereich einen weiteren Entwicklungsschritt geben. Nun sind die Dozierenden gewohnt, mit Technik umzugehen, jetzt muss es um gute Settings in der Lehre gehen. Da sich nun viele Lehrende damit beschäftigt haben, gibt es eine gute Chance, dass der Funke überspringt und viel passiert.
Zur Person
Prof. Dr. Ulrike Cress
ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien. Seit 2008 ist sie W3-Professorin an der Universität Tübingen im Fachbereich Psychologie. Sie war Mitglied des Ausschusses zur Projektauswahl für die Ausschreibung “Hochschullehre durch Digitalisierung stärken”.
Foto: ©IWM Tübingen, Paavo Ruch
Was braucht es an den Hochschulen, damit das gelingen kann?
Die Hochschulen sind gefragt, Ideen zu entwickeln. Sie müssen die digitalen Formate nun von der Pieke auf gestalten.
Cress: Es braucht an den Hochschulen mehr Reflektion, mehr gute Beispiele, was Online-Lehre ist. Zentral dafür sind Patterns, also Entwurfsmuster, die man für Lehrveranstaltungen ganz einfach nutzen kann. Dadurch kann eine Lehrkraft eine Vorstellung bekommen, wie eine gute onlinegestützte Veranstaltung aussehen kann. Dozierende müssen gute digitale Lehre kennenlernen, durch Fortbildungen, durch gute Beispiele. Kollaboration in einem Seminar entsteht ja nicht von selbst. Dafür braucht es eine geeignete Plattform, andere Aufgaben für die Studierenden, ein Feedbacksystem, vielleicht eine andere Form der Benotung. Das ist ein großer Schritt. Hinzu kommt: Die Online-Systeme können weitaus mehr als bislang oft zum Einsatz kommt. Sie sind viel mehr als ein Semesterapparat, in dem nur die Literatur zur Verfügung gestellt wird. Viele Lehrkräfte wissen noch gar nicht, was alles möglich ist. Also: Die Hochschulen sind gefragt, Ideen zu entwickeln. Sie müssen die digitalen Formate nun von der Pieke auf gestalten.
Sie sprechen verschiedene Aspekte an: Wie verändert sich der Lehr-Lern-Prozess denn grundsätzlich durch die Digitalisierung?
Cress: Das zeigt sich schön am Flipped Classroom. Das Konzept ist nicht ganz neu, aber es passt. Die Wissensvermittlung, bei der es bei den Studierenden um Rezeption geht, kann zu Hause in den eigenen vier Wänden passieren. Das Wissen kann sich jede und jeder in Ruhe erarbeiten, einen Text lesen, ein Video anschauen. Die Situation vor Ort schafft dann eine Interaktion zu diesen Inhalten. Die Lernzeit vor Ort ist nicht dafür da, nur dazusitzen und zuzuhören. Hier wird Kommunikation viel wichtiger. Das ist das, was sich mit Medien erreichen lässt. Das Lernen lässt sich stärker trennen in Phasen der Rezeption und Phasen des Produzierens, des Arbeitens mit den Inhalten. Klassischerweise fand der zweite Teil bislang in Seminaren statt. Aber auch diese waren oft nicht sehr interaktiv. Mit digitalen Medien lässt sich das verbessern. Sie erlauben ganz neue Arbeitsmöglichkeiten.
Was bedeutet das im nächsten Schritt für Prüfungen, für Benotungen?
Cress: Darüber wird gerade sehr viel diskutiert. Können Prüfungen noch Tests sein, bei denen man ohne Buch im Hörsaal sitzt und Wissen abgefragt wird? Nein. Eigentlich müssen Studierende in Prüfungen alles das zur Verfügung haben, was sie auch in der realen Welt zur Verfügung haben, also Bücher, das Internet. Es ist nicht leicht zu organisieren, wie sich Aufgaben dann fair bewerten lassen. Sinn ist ja nicht, nur die Fähigkeit einer Person zu messen, wie gut sie Informationen findet – sondern es geht um das Verständnis der Inhalte. Was ist die Eigenleistung? Dafür braucht es neue Prüfungsformate, um das reliabel und valide zu messen. Es gibt erste Hochschulen, die damit anfangen, aber bei diesem Thema stehen wir noch ganz am Anfang.
Das führt uns zu dem Blick auf die Studierenden. Oft genannt: Durch mehr Selbststudium entsteht eine „digitale Kluft“, die schwächere Studierende weiter zurückwirft. Wie sehen Sie das?
Digitale Medien können die Massensituation auflösen und ein individuelles Lernen ermöglichen.
Cress: Es gab schon vor Corona Studien, die das gezeigt haben. Wenn Studierende auf sich selbst gestellt sind, profitieren diejenigen mit viel Vorwissen und Kompetenzen: Sie fühlen sich freier, sind interessierter, sie können ihren Lernprozess selbst gestalten. Wer das nicht hat, verschlechtert sich eher. Selbststeuerung klingt immer positiv. Aber es bezieht sich auf das Lernniveau, das man bereits hat. Entscheidend für den Umgang damit ist Feedback. Der Lernende muss wissen: Wo stehe ich gerade? Was habe ich gelernt? Wie gut bin ich in einem bestimmten Bereich? Hier hilft Technik. Studierende können schnell und einfach zum Beispiel ein kleines Quiz machen. Das kann Selbstkontrolle unterstützen. Technik alleine reicht aber nicht. Es braucht auch direktes Feedback von den Lehrenden. Das fällt durch Corona oft weg. Aber es fiel auch vorher oft weg. Man vergisst das häufig, aber die Massenuniversität war auch vorher kein Ort des persönlich-individualisierten Lernens. Digitale Medien können diese Massensituation auflösen und ein individuelles Lernen ermöglichen. Das heißt: Mit Medien lässt sich diese digitale Kluft verkleinern. Es setzt voraus, dass sie adaptiv zum Einsatz kommen. Im Blick muss sein, was der individuelle Studierende beim Lernen braucht. Und das bedeutet deutlich mehr Aufwand für die Lehrkräfte. Das gilt generell: Lehre mit digitalen Medien ist schlicht aufwendiger. Es gibt schon lange die Diskussion, wie dafür die Kapazitätsberechnungen der Lehrkräfte anzupassen sind. Das ist sehr wichtig.
Wird das aus Ihrer Sicht in der Zukunft so bestehen bleiben? Sie haben Patterns angesprochen – wird durch mehr Routine in diesen Lehrformaten der Aufwand langfristig geringer?
Cress: Die ersten Male wird es auf jeden Fall deutlich aufwendiger sein, mit mehr Erfahrung wird es weniger aufwendig. Dann kommt es ganz auf die Lehrkraft an, wie sie ihre Veranstaltungen gestaltet. Die Aufgabe ist es, die Lehrkräfte zu unterstützen, durch gute Patterns beispielsweise. Der Aufwand für die Vorbereitung einer guten onlinegestützten Veranstaltung wird letztlich immer etwas höher sein als für eine klassische Face-to-Face-Lehre. Das wird so bleiben.
Das führt zum Blick in die Zukunft: Wie wird die Lehre nach der Coronapandemie aussehen?
Das Bewusstsein, was Technik kann, wird bleiben.
Cress: Die onlinegestützten Formate werden bleiben. Das Bewusstsein, was Technik kann, wird bleiben. Hochschulstrategisch wird bleiben, dass sich mit Online-Formaten neue Zielgruppen für Lehrveranstaltungen erschließen lassen, beispielsweise für berufsbegleitende Studiengänge. Hinzu kommt, dass die Lehre auch vor der Coronapandemie an einigen Stellen Verbesserungspotenzial hatte. Durch den zunehmenden Einsatz von Medien sehe ich die Chance, dass sich das langfristig verbessert.
Sie haben es angesprochen, die Digitalisierung war ein Treiber für Veränderung. Wie schätzen Sie das ein, wird sich die Innovationsfreudigkeit der Hochschulen dadurch langfristig verändern?
Cress: Ich glaube, dass durch die internationale Konkurrenz Druck zur Innovation da ist. Die Strukturen des klassischen Studiums stehen aber weiter im Vordergrund. Es ist ein sehr langsamer Prozess. Er ist zäher als in anderen Bereichen der Gesellschaft.