Beitrag vom
30.05.2022
Fotoprojekt „Changing Perspectives”
Präsenz lernen
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
Es fing schon an der Pforte an. An der Deutschen Hochschule der Polizei in Oranienburg mussten die Studierenden am großen Tor erst einmal warten. Sie wurden abgeholt und durften nur in Begleitung auf dem Gelände unterwegs sein. Bei welchen Übungen das Fotografieren erlaubt war, war vorher genau festgelegt worden. Ganz anders an der Hochschule für Musik und Theater (HfMT) Hamburg. Im kleinen Sekretariat wurden die Studierenden ganz unaufgeregt empfangen. Sie konnten dann einfach durch das Gebäude laufen, überall reinschauen, zuhören und fotografieren.
„Auf dem Flur hörten wir eine Opernsängerin. Wir haben sie spontan besucht. So etwas wäre bei der Polizei undenkbar.“
„Das war wirklich ein riesengroßer Kontrast“, sagt Franziska Hagen. Die Studentin war mit unserem Projekt „Changing Perspectives“ an der FH Potsdam an mehreren Hochschulen unterwegs, um Lehren und Lernen zu fotografieren. „Bei der Polizei war alles ganz exakt geregelt. Wir mussten uns an einen genauen Ablaufplan halten“, erzählt die 20-Jährige. „An der HfMT konnten wir hingegen einfach losstarten.“ Es sei alles sehr frei gewesen. „Auf dem Flur hörten wir eine Opernsängerin. Wir haben mal geschaut, wo sie probt und sie spontan besucht. So etwas wäre bei der Polizei undenkbar.“
Die ganz verschiedenen Lehr- und Lernkulturen faszinieren Hagen. Sie hat dazu auch einen persönlichen Bezug. Wenn sie davon erzählt, beginnt sie mit einer Geschichte. Sie war einmal mit dem Auto unterwegs, als sie die Polizei in einer Verkehrskontrolle anhielt. „Der Polizist war total irritiert, weil ich so freundlich war“, erzählt Hagen und lacht laut. „Ich habe einfach nett mit ihm gesprochen. Das ist komplett ungewöhnlich, die meisten haben Angst und sind verunsichert. Ich nicht – ich komme aus einer Polizistenfamilie.“
Auf Skepsis gestoßen
Vater, Bruder, Onkel, Cousinen: Viele in ihrer Verwandtschaft arbeiten traditionell bei der Polizei. „Sie machen diese Arbeit mit Leib und Seele. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie etwas anderes tun.“ Sie selbst sei hingegen immer anders gewesen: „Ich bin die Einzige in der Familie, die etwas Künstlerisches macht.“ An der FH Potsdam studiert die 20-Jährige Interface Design. In dem Fach geht es vereinfacht gesagt um die Gestaltung von Websites.
„Welche Menschen entscheiden sich für welchen Studiengang und was macht das mit ihnen?“
„Dass ich etwas ganz anderes machen möchte, ist in meiner Familie auf Skepsis gestoßen. Mich hat deshalb besonders interessiert, welche Menschen sich für welchen Studiengang entscheiden und was das mit ihnen macht.“ Sie wollte deswegen unbedingt an der Polizeihochschule fotografieren.
Autorität und Einsatzbereitschaft
Eine Verkehrskontrolle: Diese Übungssituation konnte sie dann begleiten und fotografieren. Ein Foto zeigt die Polizei-Studierenden in einer Nachbesprechung. Die festen Schuhe sind gut zu sehen: „Sie standen alle immer breitbeinig, sehr aufrecht, den Rücken gerade, die Hände oft am Gürtel“, erinnert sich Hagen. „Das machen sie ganz bewusst, denn diese Position vermittelt Autorität, Einsatzbereitschaft und Souveränität.“ Bei der Besprechung der Übung sei der Lehrende den Ablauf minutiös durchgegangen. „Die Studierenden mussten ihre Handlungsschritte genau erklären, dabei Gesetze zitieren. Als Nichtpolizistin konnte ich oft gar nicht verstehen, warum es gerade genau ging.“
Ihr Eindruck: Lernen heißt auf der Polizeihochschule vor allem auch, sich Regeln zu unterwerfen und in Abläufe einzufügen. „Es gibt immer ein Richtig und ein Falsch. Entweder man weiß etwas oder nicht. Die Sprache ist sehr exakt, es darf kein falsches Wort fallen.“ Jeder Schritt sei auf ein genau definiertes Ziel hin ausgerichtet: „Die Studierenden werden darauf vorbereitet, das dann kühl und rational umzusetzen.“
Zur Person
Franziska Hagen
Großer Handlungsspielraum
Ganz anders an der Hochschule für Musik und Theater. Auf einem der
Fotos sind die Studierenden zu sehen, die mit der Dozentin auf einer
Bühne im Kreis stehen. Sie diskutieren. Eine Hierarchie ist nicht zu
erkennen. „Das ist sehr interessant: Auch an dieser Hochschule ging es
darum, körperliche Präsenz zu lernen. Aber es war alles sehr frei.“
„Die Dozentin hat mit den Studierenden überlegt, wie sie etwas angehen könnten. Das war alles sehr offen.“
Sie habe sich einfach zwischen den Studierenden bewegen und fotografieren können, berichtet Hagen. „Ich habe erlebt, dass oft der nächste Schritt gar nicht klar war. Die Dozentin hat mit den Studierenden überlegt, wie sie etwas angehen könnten. Das war alles sehr offen.“
Ein anderes Foto zeigt zwei Frauen, die gerade eine Szene proben.
Eine kauert auf dem Boden, die andere hat einen weißen Pullover über den
Kopf gezogen. „Es geht immer darum, individuell eine besondere Lösung
zu finden. Dabei ist Kreativität gefragt, aus dem Bauchgefühl heraus.
Der Handlungsspielraum der Einzelnen ist riesengroß.“
Voneinander lernen
Ihre Erkenntnis: Auch der Lernprozess sei sehr unterschiedlich. „Bei
der Polizei ist das ganz klar. Die Studierenden lernen von den
Lehrenden“, beschreibt Hagen. „Beim Theater war das anders, in der
Interaktion haben alle voneinander gelernt. Die Dozentin hat das auch
betont.“
Und was hat sie für sich aus dem Projekt mitgenommen? „Es prägt die
Menschen, was und wie sie für ihren Beruf lernen“, sagt Hagen.
„Polizisten stehen beispielsweise immer so aufrecht, sie kommen aus der
Rolle nicht heraus.“ Sie verstehe jetzt besser, was Menschen an
bestimmten Studiengängen interessant finden. „Und ich bleibe auf jeden
Fall beim Künstlerischen, denn das passt zu mir.“