Beitrag vom
28.02.2022
Interview mit Sandra Dietzel
Wie Lehre im vierten Coronasemester gelaufen ist
Ein Beitrag von Dr. Matthias Klein
Das vergangene Semester war das vierte in der Coronapandemie. Wie haben Sie das an Ihrer Hochschule erlebt, Frau Dietzel?
Sandra Dietzel: Ja, es war ein weiteres Coronasemester. Aber anders als in den drei Semestern zuvor gab es nun wieder durchweg Präsenzlehre, zumindest für bestimmte Lehrveranstaltungstypen und Gruppengrößen. Wir haben vor allem Seminare, Übungen und Praktika in Präsenz angeboten. Wir sind eine Hochschule mit starkem Praxisbezug. Insbesondere dort, wo die Gruppen klein waren, gab es viele Präsenzveranstaltungen. Wichtig war dafür natürlich das Hygienekonzept. Die Studierenden haben sich sehr genau an die Regeln gehalten, weil sie sich gemeinsam mit den Lehrenden nach den drei durch Onlinelehre geprägten Semestern unbedingt Präsenzlehre wünschten. Wir haben noch einmal eindrucksvoll erlebt, dass Online- niemals die Präsenzlehre ersetzen kann.
Sie hatten an der Hochschule insbesondere in den Coronasemestern zuvor bereits Erfahrungen mit digitalen Formaten in der Lehre gemacht – wie gut hat das funktioniert?
20 bis 30 Prozent der Studierenden arbeiten bei reinen Onlineeinheiten nicht aktiv mit oder gehen mitunter verloren.
Dietzel: Die Lehrenden konnten in der Tat auf Erfahrungen mit Onlineformaten zurückgreifen. Es war nun im vierten Semester der Coronapandemie nicht mehr alles im Ausprobierstatus. Die technische Infrastruktur war etabliert, bei uns sind beispielsweise Moodle als Lernplattform und BigBlueButton als Videokonferenzsystem inzwischen selbstverständlich. Was mir viele Lehrende berichtet haben: Es ist bei reinen Onlineformaten schwieriger, interaktiv zu arbeiten. Das ist nicht so gut möglich wie in einer Präsenzveranstaltung. Und deshalb passiert es mitunter, dass Studierende abtauchen – auch wenn man die Gruppen möglichst klein macht und viele aktive Einheiten integriert. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass 20 bis 30 Prozent der Studierenden bei solchen reinen Onlineeinheiten nicht aktiv mitarbeiten oder mitunter verloren gehen.
Zur Person
Sandra Dietzel
ist Projektmitarbeiterin Hochschuldidaktik beim Projekt INSPIRE (INStitutionelle Verankerung und Praktische Umsetzung dIgital beReicherter LEhre) an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena.
Wie kann man darauf reagieren?
Dietzel: Die Bindung der Studierenden ist ein großes Thema. Wie binde ich gerade die Erstsemester an das neue Umfeld? Die Lehrenden berichten uns, dass sie zunächst eine Beziehung zu den Studierenden aufbauen müssen, bevor Onlineformate gut gelingen können. So wurde es teilweise durch hybride Lehre ermöglicht, dass zumindest ein Teil der Studierenden alternierend vor Ort sein konnte. Wir haben gelernt in der Coronazeit: Hochschulen sind nicht nur Lernorte. Es gibt sehr viele Seiteneffekte. Der Campus ist wichtig, weil vieles auf dem Weg zwischen den Veranstaltungen passiert: in der Mensa, auf dem Flur, im Bus dorthin. Der Mensch braucht diese Kontakte, diese Resonanz. Das darf nicht verloren gehen. Und bei Erstsemestern ist das besonders wichtig. Darüber hinaus geht es zum Beginn des Studiums auch darum, sich zu orientieren und mit den Kommiliton:innen auszutauschen, um das eigene Vorwissen und die Kompetenzen einordnen zu können: Wie ist mein Leistungsstand? Kann ich das Pensum schaffen? Das sind Fragen, die in den Köpfen der Studienanfänger:innen sind.
Was raten Sie den Lehrenden?
Dietzel: Gerade bei den Studienanfänger:innen können bestimmte ergänzende Onlineformate trotz allem sehr hilfreich sein. Ein großes Thema ist das Vorwissen aus der Schulzeit. Wenn Grundlegendes beispielsweise in Mathe fehlt, müssen die Lehrenden einen Schritt zurückgehen. Nun können sie als Basis für ihre Einheit auf vorhandene entwickelte Materialien wie interaktive Videos oder in Moodle erstellte Lernmaterialien zurückgreifen. Weiterhin gibt es Überlegungen, Kataloge aus passgenauen Videos und anderen interaktiven Inhalten für Basiswissen zu erstellen, welche studiengangsübergreifend nutzbar sein sollen. Die Studierenden können dann individuell ihre Lücken aufarbeiten und erhalten für die bearbeiteten Aufgaben individuelles Feedback. Gemeinsame Angebote zur Vertiefung sollen hier zusätzlich stärken.
Lassen Sie uns auf die fortgeschritteneren Studierenden blicken. Worauf kommt es bei Onlineformaten bei ihnen besonders an?
Die Studierenden sollten nicht nur Konsument:innen der Inhalte sein. Es muss umfassende Zeiten des aktiven kognitiven Lernens geben.
Dietzel: Onlinelehre ist eine Bereicherung und Ergänzung der Präsenzlehre. Grundsätzlich ist es für eine gelingende Lehre in Präsenz oder Online entscheidend, die Studierenden zu aktivieren. Die Studierenden sollten nicht nur Konsument:innen der Inhalte sein. Es muss umfassende Zeiten des aktiven kognitiven Lernens geben. Wir arbeiten im Projekt INSPIRE daran, wie das mit Blended Learning-Konzepten umgesetzt werden kann und binden dabei bereits umgesetzte Best-Practice-Beispiele aus der aktiven Lehre unserer Hochschule ein. Dazu gehören beispielsweise Lernstandskontrollen, welche sich auf die im Vorfeld benannten Lernziele beziehen. Dann sehen Studierende: Dieses Lernziel habe ich bereits erreicht. Oder bei jenem Lernziel fehlt mir noch etwas. Ziel ist es, nicht eine große unüberwindbare Wand an Lernstoff bis zu den Prüfungen aufzubauen, sondern den individuellen Lernstand in Etappen durch Quizzes und Tests im laufenden Semester regelmäßig überprüfen zu können. Gerade mit Blended Learning-Konzepten kann man dies sehr gut strukturieren: Man kann kleine Teile der Wissensvermittlung online an den Anfang stellen, zum Beispiel nach dem Konzept des Flipped Classroom. Mit dem Lernmanagementsystem lassen sich darauf aufbauend verschiedene Aufgaben bauen, um Wissen abzufragen oder über ein Worksheet Wissen zu sichern, um somit den Transfer in die Präsenzveranstaltung zu ermöglichen. Damit regt man die Studierenden zum Nachdenken, zum Reflektieren an. Das ist in Präsenz genauso notwendig wie in Onlineformaten. Wichtig ist, diesen Wechsel aus wissensvermittelnden und aktivierenden Einheiten und dabei kollaboratives Arbeiten zu ermöglichen.
Sie sagen, Ihre Hochschule hat sehr stark praktische Studiengänge. An welchem Beispiel kann man zeigen, wie Online- und Präsenzformate schon besonders gut zusammengebracht werden?
Dietzel: Der Einsatz von Lehrvideos als Onlineformat für Vorlesungen mit integrierten Aufgaben wurde beispielsweise den Übungen in Präsenz vorgeschaltet. Über die rückgemeldeten Fragen, die beim Bearbeiten des Lehrvideos aufkamen, konnten die Studierenden in der Übung Beispielaufgaben lösen und erhielten das nötige Feedback und die individuelle Unterstützung der Lehrkraft. Außerdem sind wir gerade dabei, für den Lehrveranstaltungstyp Praktikum Möglichkeiten zu erproben, den Studierenden vor den Präsenzveranstaltungen das Lernumfeld in Videos zu zeigen, also das Labor und den Versuchsaufbau. Mit Moodle kann man Videos oder Bilder zum Laborumfeld mit Wissensinhalten bereichern und somit zum Beispiel Informationen über die vorgeschriebene Kleidung im Reinraum oder die Funktionsweise eines Geräts anschaulich aufbereiten. Die Studierenden können sich dann mit diesen Videos und Informationen zu Hause vorbereiten: Wie sieht der Raum aus? Was müssen sie beachten? Und dann können sie vor Ort gleich loslegen, die Lehrenden müssen es dort nicht mehr so ausführlich erklären. Das spart enorm viel Zeit. Im Projekt INSPIRE arbeiten wir gerade daran, diese möglichen interaktiven Elemente den Lehrenden nahezubringen. Dafür haben wir ein Fortbildungsformat entwickelt. Wir zeigen über fünf Tage in halbstündigen Sessions die Möglichkeiten der verschiedenen interaktiven Lernformate und geben Schritt für Schritt Anleitung.
Was glauben Sie, sind die Erfahrungen der vier Coronasemester mit neuen Formaten ein Innovationsschub für die Hochschullehre?
Wir haben einen Entwicklungsschub und eine spürbare Sensibilisierung für die Nutzung digitaler Elemente gesehen.
Dietzel: Ja. Wir sind nicht blauäugig und glauben, dass alle Lehrenden sofort neue Formate umsetzen oder sie alle digitalen Formate nach den Coranasemestern weiter nutzen. Das ist auch gar nicht das Ziel: Es geht um die Rückkehr zur Präsenzlehre und deren Bereicherung um solche digitalen Formate, die für Studierende eine Unterstützung beim Kompetenzerwerb darstellen. Aber wir haben einen Entwicklungsschub und eine spürbare Sensibilisierung für die Nutzung digitaler Elemente gesehen. Und diese Entwicklung wird weitergehen.