Beitrag vom
30.11.2022
Open Educational Ressources
Noch längst nicht etabliert
Ein Beitrag von Antonia Hildebrandt
Im vergangenen Juli brachte das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Strategiepapier zur Förderung offener und freier Bildungsmaterialien heraus. Ein „deutliches Signal für Open Educational Ressources“, so nennt es Markus Deimann. Er ist Geschäftsführer des „Open Ressources Campus NRW“, kurz: „ORCA.nrw“, einer Plattform für frei zugängliche Bildungsmaterialien in Nordrhein-Westfalen. Unter anderem beraten Deimann und sein Team Hochschulen und Lehrende bei Fragen rund um das Thema.
Open Educational Ressources (OER) sind Bildungsmaterialien, die unter einer offenen Lizenz stehen. Einzelne Texte oder Videos, aber auch ganze Kurspläne und Bücher können kostenlos genutzt, bearbeitet und weiterverbreitet werden. Dabei bestimmen die Autor:innen selbst, welche Nutzungsrechte sie freigeben und welche sie sich vorbehalten.
Viele Defizite
Seit vielen Jahren sind solche frei zugänglichen Bildungsmaterialien ein Thema. Sogar die UNESCO hat ihren Mitgliedstaaten empfohlen, OER stärker in der nationalen Bildungspolitik zu verankern. Diese Materialien besäßen ein besonders Potenzial, „inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung für alle Menschen sicherzustellen sowie Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen zu fördern. […] Schließlich kann durch kollaborative Lernprozesse und Peer-Review-Verfahren die Qualität von Bildungsmaterialien verbessert werden.“
Aktuell spielen OER allerdings im Alltag der meisten Hochschulen in Deutschland kaum eine Rolle. Zu diesem Ergebnis kommt eine Konzeptstudie zur Förderung von OER an niedersächsischen Hochschulen von Tina Ladwig im Auftrag des HIS-Instituts für Hochschulentwicklung e. V. und gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur. OER stellen demnach kein strategisches Alleinstellungsmerkmal dar. „Aktuell klafft die Schere zwischen einerseits den idealistisch verfolgten Zielen mit Blick auf Transfer und Partizipation Zugang zu Wissen zu schaffen, Teilhabe an akademischem Wissen und Wissensproduktion zu ermöglichen sowie die Öffnung von Hochschulen voranzutreiben und anderseits dem tatsächlichen Nutzen für Hochschulangehörige weit auseinander“, heißt es in der Studie. Es gebe Defizite in fast allen Bereichen: bei den rechtlichen Rahmenbedingungen, dem Ableiten sinnvoller didaktischer Einsatzszenarien oder sogar bei der Definition von OER.
Zur Person
Dr. Markus Deimann
Geschäftsführer ORCA.nrw
Unterstützung gefragt
Auch Markus Deimann hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Deutschland hinkt im internationalen Vergleich hinterher. Vor allem in Skandinavien sind die Materialien vielerorts Standard“, erklärt Deimann. „Hierzulande aber haben viele Lehrende noch nie etwas von OER gehört.“
Immerhin gebe es aber zumindest Bewegungen in die richtige Richtung, sagt Deimann. Es gebe an immer mehr Hochschulen eine offizielle OER-Policy. Wichtig wäre nun, dass das nicht nur Lippenbekenntnisse seien: Das Thema müsse systematisch an verschiedenen Hochschulstellen integriert werden – am besten überall, wo es passe, zum Beispiel bei der Studienberatung, in Studiengangs-Kommissionen und in Rechenzentren.
„Wer OER nicht kennt, produziert auch keine solchen Materialien. Dadurch gibt es auf den entsprechenden Pattformen nur wenig Inhalt – der Bestand ist einfach zu gering“, erläutert Deimann. Das könne geändert werden, indem Hochschulleitungen an verschiedenen Stellen verbindlich einfordern, dass Lehrende OER produzieren. Dabei sei enorm wichtig, dass die Lehrenden ausreichend betreut werden und keine Angst entsteht. „Wer OER-Materialien produzieren und nutzen will, der muss dabei in mehreren Bereichen unterstützt werden. Es kommen nicht nur Fragen zur Technik auf, sondern oft zur Rechtssicherheit: Welche Bilder darf ich hochladen, was genau muss ich ändern? Für solche Fragen braucht es Anlaufstellen – und sie müssen finanziert werden.“
Auf Arbeitszeit anrechnen
Und OER kosten nicht nur Geld, sondern vor allem auch Zeit. Zur eigentlichen Produktion des Materials kommt gerade am Anfang weiterer Aufwand. Deimann erzählt ein Beispiel. „Ich möchte eine Präsentation hochladen. Ich weiß aber nicht, ob ich die notwenigen Rechte für alle Elemente, also zum Beispiel für die Bilder, habe. Dann muss ich im Zweifel in den sauren Apfel beißen. Das bedeutet, ich muss die Präsentation umarbeiten, sodass ich sie rechtlich sicher hochladen kann.“ Am besten werde das Material zusätzlich noch in Module unterteilt, sodass sich Nutzer:innen bei Bedarf einzelne Teile herunterladen können. „Das ist alles zeitintensiv – und muss auf die Arbeitszeit angerechnet werden.“
Er würde außerdem noch an einer anderen Stelle ansetzen, um sowohl die Bekanntheit als auch den Bestand von OER zu erhöhen: bei den Bedingungen für Berufungen auf Lehrstühle. „Ich könnte mir vorstellen, dass Lehrende eine gewisse Anzahl an eigenen OER-Materialien vor einer Berufungskommission vorweisen müssen. Das würde nicht nur die Akzeptanz von OER erhöhen, sondern zusätzlich eine Stärkung des Stellenwerts von kreativer, guter Lehre bedeuten.“
Grundstock angelegt
Aktuell arbeitet Deimann mit seinem Team noch an einem anderen Problemfeld, der Auffindbarkeit von bereits vorhandenen OER-Materialien im Netz. „Wenn ich als Lehrender für eine meiner Veranstaltungen Material suche, dann kann es sein, dass es zwar eigentlich schon einiges zu meinem Thema gibt, ich es aber unter für mich sinnvollen Suchbegriffen einfach nicht finde. Denn es gibt keine einheitliche Verschlagwortung“, berichtet Deimann.
Auf der Plattform ORCA.nrw haben sein Team und er daran gearbeitet, einen Grundstock anzulegen. „Es gibt ein allgemeines Metadatenprofil, das OER-Produzierende ausfüllen. Das ist aber noch sehr rudimentär, nur Name, Titel, Abstract.“ Es fehle noch der ganze Bereich „didaktische Metadaten“. Und wenn sich Expert:innen da auf eine Vereinheitlichung einigen könnten, dann wäre man einen großen Schritt weiter, sagt Deimann. Schließlich gibt es mehrere Plattformen für OER, in fast jedem Bundesland eine. Für Suchfunktionen müssten dann Schnittstellen geschaffen werden, dass Lehrende in Hamburg auch Material aus Sachsen finden.
Selbstverständlich, akzeptiert und organisch – so wünscht sich Deimann die OER-Landschaft. Freie Bildungsmaterialien zu erstellen, zu benutzen und zu verändern, soll normal sein. „Open Educational Ressources sind für mich Mittel zum Zweck: Sie unterstützen Lehren und Lernen.“
Zur Autorin
Antonia Hildebrandt
Kommunikationsmanagerin
Antonia Hildebrandt ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre