Beitrag vom
23.02.2023
Ein Jahr Krieg in der Ukraine
Vom Krieg ablenken
Ein Beitrag von Antonia Hildebrandt
Er will sich auf Energieverfahren spezialisieren, um nach dem Krieg beim Wiederaufbau der Infrastruktur zu helfen. Lev Homberh studiert Wirtschaftsingenieurwesen, Fachrichtung Maschinenbau im ersten Semester an der RWTH Aachen in Präsenz. Seit September ist er in Deutschland, ursprünglich kommt er aus Odessa, einer Stadt im Süden der Ukraine. Er ist 17 Jahre alt. Zum einen studiere er so früh, weil das ukrainische Bildungssystem anders funktioniere, so Homberh. Zum anderen, „weil ich sehr viel arbeite.“ Er will hier in Deutschland seine Ausbildung absolvieren: einen Bachelor, einen Master und vielleicht noch mehr. „Die Energieinfrastruktur ist durch den Krieg völlig zerstört, es gibt immer wieder großflächig Stromausfälle. So kann ich meinem Land am besten helfen.“
Durch das Studium denkt er mehr über Zahlen nach als über den Krieg und seinen Vater, der noch in der Ukraine ist.
Auch in Odessa falle der Strom immer wieder aus und es gebe täglich Raketenangriffe, berichtet Homberh. Das weiß er, weil sein Vater noch dort lebt und arbeitet. Seine Mutter pendelt zwischen Aachen und Odessa, einige Wochen hier, einige dort. „In Deutschland merkt man nicht viel von dem Krieg außer in den Nachrichten. Für mich bedeutet es großen Stress, dass mein Vater noch immer dort ist, auch wenn die Situation nicht so schlimm ist wie in anderen ukrainischen Städten“, sagt Homberh. Was ihm hilft, ist das Studium. Es lenkt ihn ab und sorgt dafür, dass er mehr über Zahlen nachdenkt als über den Krieg.
So macht es auch Oleksandr Volotko. Der 19-Jährige stammt aus Saporischschja und ist seit zehn Monaten hier. Er studiert Wirtschaftsmathematik, ebenfalls in Präsenz in Aachen. Ohne sein Studium würde er mehr über die Lage in der Heimat nachgrübeln. „Es tut mir sehr leid, was dort passiert. Ich verfolge die Nachrichten. Allerdings höre ich nur noch hin, wenn es große Veränderungen gibt. Ich kann nicht mehr immerzu an die schlimme Lage denken.“ Er konnte seine Familie nach Aachen holen. Gemeinsam mit ihnen will er erst einmal hierbleiben. „Das Studium in Deutschland ist gut für meine Karriere. Wo ich danach hingehe, weiß ich noch nicht. Ich sehe meine Zukunft in Europa oder in den USA. Vielleicht gehe ich aber auch eines Tages wieder zurück in die Ukraine.“
ZU DEN PERSONEN
Hilfe bei bürokratischen Hürden
Kurz nach Ausbruch des Krieges habe es zahlreiche Anfragen gegeben, mittlerweile sei es etwas ruhiger.
Viele der ukrainischen Studierenden planen, ihr Studium in Deutschland zu beenden, sagt Azadeh Hartmann-Alampour vom Projekt SURE:st. Das Projekt hat sich zum Ziel gesetzt, dabei zu helfen, dass Angehörige ukrainischer Universitäten Studium und Lehre mit möglichst wenig Verlust fortsetzen können. Hartmann-Alampour betreut 23 junge Frauen und Männer, die sich nach ihrer Flucht an der RWTH eingeschrieben haben. Sie berät sie bei der Beantragung von BaföG oder Stipendien. Sie informiert sie über Angebote für Sprachkurse und unterstützt bei der Bewerbung um einen Wohnheimplatz. Bei Problemen im Studienverlauf kann Hartmann-Alampour nach Lösungen suchen und auf Unterstützungsmöglichkeiten der RWTH hinweisen. Kurz nach Ausbruch des Krieges habe es zahlreiche Anfragen gegeben, erzählt Hartmann-Alampour, mittlerweile sei es etwas ruhiger: „Die meisten Studierenden haben hier schon die ersten Schritte gemacht und Antworten auf ihre Fragen bekommen.“
"Lernen und Lehre sichern. Fokus Ukraine"
Mit der Sonderförderung „Lernen und Lehre sichern. Fokus Ukraine“ haben wir ein Angebot für deutsche Hochschulen geschaffen, die im Bereich Studium und Lehre auf die Kriegsfolgen für Student:innen und Wissenschaftler:innen aus der Ukraine reagieren möchten.
Zu den sieben geförderten Projekten gehört neben SURE:st zum Beispiel auch das Projekt Theaterakademie Charkiv @ HfS Ernst Busch. Wie es Angehörigen ukrainischer Hochschulen hilft, können Sie hier sehen.
Angst um die Familie
Hartmann-Alampour konnte unter anderem Anna Sokolovska dabei unterstützen, ein Stipendium zu bekommen. Die 18-Jährige aus Charkiw studierte in ihrer Heimat bereits ein Jahr Medizin und ist nun auch hier seit September dafür eingeschrieben. Als sie direkt nach Kriegsbeginn nach Deutschland kam, war sie minderjährig und ohne ihre Eltern unterwegs. Sie kam erstmal eine Weile bei einer Gastfamilie unter, bevor sie alle Dokumente zusammen hatte, um zum Studium zugelassen zu werden. „Das Medizinstudium ist hier in Deutschland einfach besser als in der Ukraine“, erzählt Sokolovska.
„Ich habe vor dem Krieg große Angst. Ich war seit dem Beginn der Kämpfe nicht mehr in der Ukraine.“
Wie es nach dem Studium weitergehen soll, weiß sie noch nicht. Am liebsten würde sie in Deutschland und in der Ukraine arbeiten. „Hoffentlich ist dort dann Frieden. Ich habe vor dem Krieg große Angst. Ich war seit dem Beginn der Kämpfe nicht mehr in der Ukraine. Ich habe auch große Sorgen um meine Familie. Sie ist noch in der Ukraine, nur 30 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Mein Vater ist wehrpflichtig.“ Seit einem Jahr hat sie ihre Eltern nicht gesehen. Sokolovska macht es wie Lev Homberh und Oleksandr Volotko: Sie lenkt sich mit dem Studium von ihren Sorgen ab.
Zur Autorin
Antonia Hildebrandt
Kommunikationsmanagerin
Antonia Hildebrandt ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre