Beitrag vom
25.04.2023
Interview mit Jutta Allmendinger
"Lehre differenzierter gestalten"
Ein Beitrag von Antonia Hildebrandt
Wie steht es um die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland, Frau Allmendinger?
„Die Aufnahme eines Studiums ist maßgeblich von der sozialen Herkunft geprägt.“
Wie können neue technische Entwicklungen dabei helfen, Bildungschancen gerechter zu verteilen – sowohl was den sozialen Background als auch das Geschlecht angeht?
Allmendinger: Hier liegen große und bislang in Deutschland ungenutzte Potenziale, das haben gerade die vergangenen drei Jahre gezeigt. Manche Schulen waren den schnell notwendig gewordenen Änderungen gegenüber aufgeschlossen und technisch bereits gut aufgestellt. An diesen Schulen hatten die Schülerinnen und Schüler Endgeräte, digitale Lehrangebote lagen vor und diese wurden zudem kompetenzspezifisch eingesetzt. Unter diesen Voraussetzungen können Kinder können individuell nach ihrem Leistungsstand gefördert werden. Eines ist aber klar: Nur auf neue Technik und digitale Angebote zu setzen, wäre zu kurz gegriffen.
Welche Rolle spielen dabei KI-Generatoren, wie zum Beispiel ChatGPT?
Allmendinger: ChatGPT ist ein eindrucksvolles Beispiel für schnellen technischen Fortschritt, der aber auch nicht ganz risikofrei ist. Das zeigt die Diskussion um die ganzen ungeklärten rechtlichen Fragen dieses neuen Tools. Eine wichtige Beobachtung ist auch: Manche denken, ChatGPT sei eine Art Suchmaschine – dabei kann sie weder verlässliche Nachweise oder gar reale Quellen liefern. Die KI-Expertin Doris Weßels nennt das Tool eine Inspirationshilfe, die selbst „strohdumm“ sei. Das bedeutet: Damit man solche Werkzeuge sinnvoll nutzen kann, braucht es Vorwissen und eingeübte Techniken zum Umgang damit. Wie oft bei technischen Entwicklungen, die im Bildungsbereich großes Potenzial haben, kann mehr Bildung oder Chancengerechtigkeit nicht einfach herbeigezaubert werden. Das liegt schon allein daran, dass die bereits genannten technischen Voraussetzungen in vielen Schulen und Elternhäusern gar nicht gegeben sind. Die Pandemie hat uns das sehr schmerzlich vor Augen geführt.
Zur Person
Prof. Dr. Jutta Allmendinger
Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Foto ©WZB/Ausserhofer
Welche Kompetenzen sind in Zukunft mit Blick auf Chancengerechtigkeit gefragt?
Allmendinger: Um Chancen zu sehen und ergreifen zu können, braucht es Bildung, Bildung, Bildung. Sie vermittelt den Menschen die nötigen Kompetenzen, um ihren Lebens- und Berufsweg aktiv gestalten zu können und an unserer Gesellschaft teilzuhaben. Ich nannte bereits Resilienz, Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit. Und dabei geht es ja nicht nur um berufliche Chancen. Wir wissen: Menschen mit höherer Bildung leben länger, unabhängiger und gesünder. Es geht also um die Chance auf ein ganz anderes Leben.
Drei Tage rund um die Zukunft der Hochschulbildung: Unter dem Motto “Heads Up!” findet das University:Future Festival (U:FF) vom 26. bis 28. April 2023 in Präsenz sowie im digitalen Raum statt. Jutta Allmendinger hält auf dem Festival eine Keynote zum Thema „Change the system, not the people – Geschlechtergerechte Hochschule der Zukunft“.
Jetzt Programm anschauen und anmelden!
Wie muss Hochschullehre ausgestaltet sein und was müssen Lehrende tun, um Chancengerechtigkeit zu fördern?
„In der Hochschullehre müssen wir die Diversität anerkennen und ernst nehmen.“
Die Studierendenschaft ist heute deutlich diverser zusammengesetzt als früher, in sozialer, kultureller und sprachlicher Herkunft. In der Hochschullehre müssen wir diese Diversität anerkennen und ernst nehmen. Das bedeutet für das Lehrangebot: Es muss differenziert gestaltet sein. Einige Studierende brauchen eine Art Eingangs- und Orientierungssemester, damit sie ähnliche Grundlagen wie die anderen Studierenden haben. Auch müssen wir uns leichter tun mit der Anerkennung von Qualifikationen, die in anderen Ländern erworben wurden. Ebenso sollten wir aktiv um Menschen werben, damit sie im Alter von 40 oder 50 Jahren nochmals zurück an die Hochschulen kommen. Berufliche Tätigkeitsprofile ändern sich schnell, Anpassungsqualifikationen müssen deshalb von Hochschulen ganz selbstverständlich angeboten werden. Und dann stellen sich noch immer viele soziale Fragen: Das BAföG ist zwar reformiert und angehoben worden, viele Studierende müssen aber dennoch mehrere Tage in der Woche erwerbstätig sein, damit sie sich ein Studium leisten können. Hier scheint mir eine vernünftige Balance, die das Studium in den Vordergrund stellt, zunehmend verloren zu gehen.
Zur Autorin
Antonia Hildebrandt
Kommunikationsmanagerin
Antonia Hildebrandt ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre