Kunst dokumentieren, archivieren und teilen
Ein Beitrag von Antonia Hildebrandt
Die meisten zeitgenössischen künstlerischen Werke bestehen nicht aus einem einzelnen fertigen physischen Gegenstand – aus Papier, Leinwand, Gips, Bronze oder Ähnlichem – der sich einfach archivieren ließe. Aktuell entsteht viel Kunst digital. Und sowohl zu den analogen als auch digitalen Werken gehört neben dem Endergebnis heutzutage auch die Recherche. Sie ist Teil der meisten Ausstellungen. „In unserer Hochschule wird vorwiegend experimentell gearbeitet, nach Vorbild des Bauhaus. Wir haben zum Beispiel keine Malerklasse. Natürlich entstehen bei uns trotzdem Bilder, wenn auch überwiegend digitale. Kunstwerke sind heute nur noch selten Gegenstände wie Gemälde oder Skulpturen. Viel häufiger sind es Interventionen, Performances, Aufführungen, ortsspezifische oder variable Installationen. Werden sie nicht sorgfältig dokumentiert und archiviert, bleibt von ihnen keine Spur. Oft ist die Dokumentation das Einzige, was von einem Kunst- oder Designprojekt bleibt “, erklärt Barbara Kuon, Leiterin des Projekts Open Resource Center und akademische Mitarbeiterin für Philosophie und Ästhetik an der HfG.
Kunst nicht mehr verlieren
Wenn bisher Lehrende und Studierende die HfG verlassen haben – Studierende wegen ihres Abschlusses und Lehrende wegen eines Jobwechsels – dann ist genau das häufig passiert. Es gab kein Projektarchiv, weder ein analoges noch ein digitales. Die Dokumentation und oft auch das finale Werk wurden meistens auf Datenträgern oder in Schränken der Büros der Lehrenden gelagert. Von den eingelagerten Festplatten oder USB-Sticks sind inzwischen viele schlicht kaputt und die Daten verloren. So etwas soll in Zukunft nicht mehr vorkommen.
Ein digitales Haus
Víctor Fancelli Capdevila ist einer der zwei Digital Archivists, die das neue digitale Archiv aufbauen. Dass es nicht wie ein klassisches Archiv aus Gebäuden, Regalen und Boxen besteht, mache seine Arbeit nicht einfacher, sondern komplexer, erklärt Fancelli Capdevila. „Im Digitalen ist alles fragiler, als man denkt. Man muss zum Beispiel an Back-Ups denken. Und es ist wichtig zu planen, wie die Werke zugänglich bleiben können. Sie sollen nicht irgendwo in einer Cloud verschwinden. Die Workflows der Dokumentation und Archivierung müssen gut abgestimmt und eingeübt werden: Wie genau kommt eigentlich ein Werk in das Archiv? Und wie kommt es wieder zum Vorschein?“
Die Arbeit der Archivierung gestaltet sich vor allem deswegen kompliziert, weil die Projekte so unterschiedlich sind. Für die Archivierung einer Bilder-Ausstellung zum Beispiel werden andere Materialien benötigt als für ein Design-Projekt, erläutert er. „Für die Archivierung klassischer Kunstformen gibt es bereits bewährte und festgelegte Arbeitsabläufe. Wir sind eine Hochschule, die Experimentierfreude schätzt. Wir lassen uns gerne überraschen von Projekten. Das macht unsere Arbeit interessant, aber gelegentlich auch schwierig.“
Um die Frage, wie welche Form der Kunst im Detail archiviert werden kann, kümmert sich Mustafa Emin Büyükcoşkun. Er ist einer von zwei Archival Curators des ORC. Ihre Arbeit beginnt mit der Präsentation eines Werkes. „Zu unserer Arbeit gehören folgende Fragen: Wie können die Arbeiten verschiedener Fachrichtungen festgehalten werden, wie die Recherche, die Kommunikation, der Prozess, die Theorie, die Praxis? Und wie können wir Archive aktivieren, öffnen, zugänglich machen? Wir versuchen außerdem, einen Diskurs über Archive und mit Archiven anzuregen.“ Dafür organisieren sie unter anderem Veranstaltungen mit internationalen Gästen und diskutieren verschiedene Möglichkeiten, Archive aufzubauen und nachhaltig infrastrukturell wie auch sozial zu verankern.
Projekt Open Resource Center
Viele weitere Informationen sind auf der Website des Projekts zu finden und in unserer Projekt-Datenbank.
Archivieren lernen
Büyükcoşkun und sein Kollege helfen einzelnen Studierenden individuell bei der Archivierung und Dokumentation ihrer Werke. Das kann mitunter sehr komplex sein und benötigt viel Erklärung. Da habe die Mehrheit der Studierenden noch Lücken, ergänzt Kuon. Das ORC organisiert daher verschiedene Lehrveranstaltungen für unterschiedliche Semester.
Über die Zeit soll so eine Kultur des Archivierens entstehen. „Dabei soll Bewusstsein für zwei Dinge geschaffen werden. Erstens dafür, dass die Werke überhaupt dokumentiert werden sollten. Und zweitens dafür, welche Infrastrukturen zum Dokumentieren benötigt werden“, erklärt Digital Archivist Capdevila.
Die Entwicklung einer neuen Infrastruktur hat auch eine hochschulweite Wirkung. „Die Institution ist gezwungen, die eigenen Vorgänge zu analysieren und lernt dadurch, sich selbst besser zu sehen und zu verstehen. So können Arbeitsabläufe aktualisiert und sinnvoller organisiert werden. Das ist nicht immer einfach, aber die Diskussionen zu diesen Themen sind heilsam“, erläutert Kuon.
Auf einen Blick zeigen, was geschaffen wird
Das ORC will die Werke der Studierenden und Lehrenden nicht nur festhalten, sondern auch nach außen zeigen. Dafür bekommt das neue Archiv bald eine Art Schaufenster – auch das natürlich digital. „Unsere Archivdatenbank ist sehr komplex strukturiert und erlaubt es, viele Detailinformationen zu speichern. Das Schaufenster – eine eigene Website, die mit dem Archiv verbunden ist – soll diese Komplexität reduzieren. Es soll für Gäste, aber auch für uns selbst auf einen Blick zeigen, was in unserer Hochschule passiert, woran gearbeitet und was produziert wird“, erklärt Kuon.
Zu den Personen
Dr. Barbara Kuon
Akademische Mitarbeiterin für Philosophie und Ästhetik, Foto © Barbara von Woellwarth
Mustafa Emin Büyükcoşkun
Archival Curator, Foto © Ferhat Özmen
Victor Fancelli Capdevila
Digital Archivist, Foto © Alexander Theis
Pioniere für digitale Archive
Das Team des ORC leistet mit dem Projekt Pionierarbeit. Es gibt bisher weltweit nur einzelne Initiativen, an denen sie sich für die Entwicklung ihres Archivs orientieren können, aber keine perfekte Lösung. „Niemand hat auf dem Gebiet bisher einen goldenen Weg gefunden. Nicht einmal in Kalifornien, wo im Silicon Valley das ganze Technik-Knowhow sitzt. Ich hab mit Kolleg:innen vor Ort gesprochen – auch die dortigen Kunsthochschulen haben keine digitalen Archive, es sei denn, Einzelpersonen bauen aus privater Initiative etwas Improvisiertes auf“, sagt Kuon. Und Fancelli Capdevila ergänzt: „Jede Hochschule hat eigene Bedarfe und die Archivar:innen versuchen, die besten Lösungen für ihre Hochschule zu finden.“
Zur Autorin
Antonia Hildebrandt
Kommunikationsmanagerin
Antonia Hildebrandt ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre