Beitrag vom
02.08.2023
Lehren im Leben
Prof. Dr. Hedwig Richter
Zur Person
Prof. Dr. Hedwig Richter
Prof. Dr. Hedwig Richter ist Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Sie studierte Geschichte, Germanistik und Philosophie. Heute forscht sie schwerpunktmäßig zu Demokratie und Diktatur, Migration sowie zur Geschichte Europas und der USA im 19. und 20. Jahrhundert. Sie schreibt regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, die ZEIT und die taz. Ihr jüngstes Buch beschäftigt sich mit dem „Aufbruch in die Moderne“ um 1900 und wurde 2021 publiziert.
Fotocredit: © Lena Giovanazzi
1. Wenn Sie sich zurückerinnern: Was haben Sie als erstes bewusst gelernt? Schuhe binden? Handschuhe anziehen? Zu meinen frühsten Erinnerungen gehört tatsächlich auch, wie ich bei meinen großen Geschwistern und bei meiner Mutter Buchstaben und Lesen gelernt habe und wie unglaublich schön das war. (Oder erzählt man sich das später und bildet es sich ein, weil man ein Leben zwischen Büchern und mit Buchstaben und Wörtern führt?)
2. Und was haben Sie zuletzt gelernt? Dass Elon Musk verblüffenderweise nicht damit aufhört, Twitter zu zerstören. Also eigentlich nur einmal mehr die alte Lehre: Wie destruktiv toxische Männlichkeit ist.
3. Was mussten Sie schmerzhaft lernen?
Dass ich vom Fahrrad falle, wenn ich die Kurven zu steil und zu schnell nehme.
4. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit Ihrer Schulzeit?
Großartige Lehrerinnen und Lehrer. Diskussionen. Offenheit. Vielfalt in der schwäbischen Provinz.
5. Was hat Sie in Ihrem Studium an der Lehre begeistert – und was gestört?
Begeistert hat es mich, intensiv Texte zu lesen. Gestört haben mich einige (wenige) Referate von Kommilitonen, die unfassbar schlecht waren. Ich fand das empörend und war der Meinung, die Dozentinnen und Dozenten hätten das verhindern müssen.
6. Was hat Sie dazu gebracht, selbst lehren zu wollen?
Es hat mir schon immer Spaß gemacht, andere zu belehren (tbh). Ich bin davon überzeugt, dass ein Thema, das ich wichtig finde und mich interessiert, auch andere interessant finden sollten.
7. Was haben Sie von Ihren Studierenden gelernt?
Freundlichsein. Toleranz. Die Welt in immer neuen Blickwinkeln sehen. Je älter ich werde auch: Milde. Sehr oft lerne ich Inhaltliches von ihnen. Die Studierenden übernehmen bei mir einen großen Teil der Stundengestaltung (die wir gemeinsam im Vorfeld besprechen). Neulich habe ich gelernt, wie schlimm Kriege für das Klima sind, überhaupt: wie extrem hoch der CO2-Ausstoß beim Militär ist. Die westlichen Länder und speziell die EU- und NATO-Länder haben zwar Pläne zur Reduzierung, aber – auch das habe ich von den Studierenden gelernt – diese sind kaum das Papier wert, auf dem sie stehen.
8. Was macht gute Lehre aus?
Menschenliebe und Freude am Stoff, also auch Kompetenz, würde ich sagen.
9. Von wem hätten Sie gerne mehr gelernt?
Eigentlich von allen meinen Profs. Ich fand den Anfang des Semesters immer sehr aufregend und schön. Dass ich aus dem breiten Angebot des Vorlesungsverzeichnisses auswählen konnte, empfand ich als Privileg. Und es war immer schade, dass ich nicht ein Vielfaches an Seminaren und Vorlesungen belegen konnte.
10. Was mussten Sie lernen, wollten es aber nie?
Althochdeutsch.
11. Was würden Sie gerne lehren können?
IT!
12. Welche Innovation halten Sie für überschätzt?
Mir fallen gerade nur Innovationen ein, bei denen ich vermute, dass wir sie immer noch komplett unterschätzen (etwa KI wie ChatGPT, neue Methoden, um Krebs zu heilen etc.).
13. Und auf welche Innovation warten Sie?
Bessere Medikamente und Methoden gegen Depressionen. Ich erlebe immer mehr Menschen, die darunter leiden, gerade auch junge Menschen.
14. Welches Problem können Sie gerade nicht lösen?
Ich denke daran herum, wie wir unsere liberale Demokratie in Zeiten der Klimakrise bewahren können. Und ich weiß nicht, ob wir dabei etwas aus der Geschichte lernen können.
15. Aus guten Büchern kann man viel lernen. Was lesen Sie gerade – und was lernen Sie dabei?
Latour/Schultz, „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“: Die Freude an diesem kraftvollen Marx-Engels-Sound (Bernd Schwibs hat die deutsche Übersetzung vorgelegt) und an den klugen Ideen und wie schwer sich manche damit tun, im 21. Jahrhundert anzukommen, weil sie sich von der fixen Idee des Klassenkampfes nicht lösen können.
Ewald Frie, „Ein Hof und elf Geschwister“: Wie viele interessante Arten und Weisen es gibt, gut Geschichte zu schreiben.
Julia Schoch, „Das Liebespaar des Jahrhunderts“: Mir wird wieder klar, dass Menschen Narrative brauchen, um sich in ihrem Leben zurechtzufinden.
16. Nehmen Sie uns mit in die Zukunft: Wie sieht Lehre in 50 Jahren aus?
Hm. Zukunft ist ja nicht meine Kernkompetenz. Aber ich würde vermuten: Vieles bleibt bestehen. Bestimmt gibt es noch immer Vorlesungen, Seminare sowieso. Aber vieles läuft digital, weil die Menschen globaler vernetzt sind und weil digitale Lehre klimafreundlicher ist. Inhaltlich wird sich weiterhin vieles ändern: Plattformen wie Wikipedia und KI stellen das Faktenwissen allzeit bereit, also können wir uns in der Lehre noch stärker als ohnehin auf der Meta-Ebene bewegen, noch mehr über Theorie nachdenken und über Probleme und Zusammenhänge. Was mich wirklich sehr interessieren würde: Wie werden wir mit studentischen Texten umgehen im Zeitalter von KI? Können wir auf Haus-, Bachelor- oder Masterarbeiten verzichten? Eigentlich nicht, oder?