Beitrag vom
25.10.2022
Prüfungsvorbereitung
Booklet-Tool gegen "Bulimie-Lernen"
Ein Beitrag von Antonia Hildebrandt
„Es kam vor, dass Studierende sich das ganze Semester kaum mit dem Stoff beschäftigt und dann eine Woche vor der Klausur alle Vorlesungen angesehen haben.“
Schon vor der Pandemie hat Prof. Dominik Herrmann seine Vorlesungen jede Woche aufgezeichnet und online gestellt. Die Videos sind dann dauerhaft verfügbar. Am Ende des Semesters müssen seine Studierenden Klausuren schreiben. „Es kam vor, dass Studierende sich das ganze Semester über fast gar nicht mit dem Stoff beschäftigt, sondern sich dann erst eine Woche vor der Klausur alle 15 Vorlesungen angesehen haben. Was man als ‚Bulimie-Lernen‘ kennt – in kurzer Zeit ganz viel lernen, um es für die Klausur wieder ‚auszuspucken‘ – das funktioniert bei mir aber nicht. So können die Studierenden den Inhalt nicht ordentlich verinnerlichen, um ihn auch sicher anwenden zu können. Und meine Klausuren sind sehr anwendungsbezogen“, sagt Herrmann, der den Lehrstuhl für Privatsphäre und Sicherheit in Informationssystemen der Universität Bamberg innehat. Deshalb seien früher viele durchgefallen.
Also haben er und sein Team sich Gedanken gemacht, wie sie die Studierenden motivieren können, sich regelmäßig mit den Inhalten zu befassen.
Keine einfachen Lösungen
Einige Kolleg:innen umgehen das Problem, indem sie ihre Vorlesungen
live streamen und nicht aufzeichnen, hat Herrmann beobachtet. „Das
funktioniert leider nur, wenn man davon ausgeht, dass Studierende keine
Wege finden, das Video nicht doch irgendwie mitzuschneiden und irgendwo
online zu stellen. Aber genau das tun sie, sie finden Wege“, lächelt
Herrmann. Und selbst wenn gelänge, dass die Studierenden den Inhalt nur
einmal sehen könnten, gäbe es immer noch keinen Anreiz, dass sie sich
mit diesem intensiv auseinandersetzen und ihn verinnerlichen.
Eine
andere Idee: regelmäßig benotete Hausaufgaben. Sie wurde aber schnell
wieder verworfen. „Es ist schlichtweg nicht zu schaffen, jede Woche von
hunderten Studierenden die Hausaufgaben gründlich zu kontrollieren.“
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Projekt
"DiKuLe | Digitale Kulturen der Lehre entwickeln“
Im Rahmen des Projekts wird der Nutzen von Klausur-Booklets erprobt und evaluiert. Das Booklet-Tool soll dann als Open-Source-Projekt veröffentlicht werden. Weitere Informationen zum Projekt gibt es unter https://www.uni-bamberg.de/dikule/ergebnisse/
Ohne Pflicht, aber mit Nutzen
Keine Kontrolle und trotzdem ein Mehrwert und Anreiz für die Studierenden: Das soll ein Klausuren-Booklet bieten. Und das funktioniert so: Die Studierenden sehen sich online jede Woche jeweils das aktuelle Video der Vorlesung an oder kommen zur Präsenzveranstaltung im Hörsaal und erstellen handschriftlich ein A5-Blatt mit Notizen. Was genau sie notieren, bleibt ihnen überlassen, es wird nicht kontrolliert. Dann laden sie dieses A5-Blatt hoch – über eine Software, die das Projekt „DiKuLe“ zur Verfügung stellt. Sie tun das jede Woche bis zu einem bestimmten Datum. Wenn sie die Deadline verpassen, dann fehlt am Ende dieses Blatt im Booklet. Sie können aber in der kommenden Woche für die nächste Vorlesung ein Blatt erstellen, die Chance besteht jede Woche neu. Am Ende des Semesters lässt das „DiKuLe“-Team die Booklets in der Haus-Druckerei der Universität drucken. Und diese kleinen Bücher sind dann als Hilfsmittel für die Klausur zugelassen.
Und so sieht das Erstellen der Booklets aus:
Video: Prof. Dr. Dominik Herrmann, Universität Bamberg
Reaktionen
Mehr als 1500 Studierende haben inzwischen Booklet-Seiten hochgeladen. Erprobt wird das Konzept von rund 10 Lehrenden aus verschiedenen Fachrichtungen an der Universität Bamberg.
Leonie Ackermann studiert den Master „Computing In Humanities“ im sechsten Semester. Sie hat bisher zwei Vorlesungen besucht, in denen es die Möglichkeit gab, ein Booklet anzufertigen. „Am Anfang war ich sehr motiviert und habe mich jede Woche hingesetzt. Ich habe es allerdings nicht bis zum Ende durchgehalten. Einmal habe ich acht Seiten abgegeben, einmal drei. Trotzdem hat es mir geholfen, da ich am Ende des Semesters weniger lernen musste. Zum einen, weil ich ja meine Notizen zu den Inhalten der ersten Vorlesungen im Booklet hatte. Und zum anderen, weil ich allein durch die Erstellung der Seiten den Stoff schon gut gelernt hatte“, erinnert sich Leonie.
Außerdem habe sich ihre Fähigkeit, wichtige Notizen zusammenzufassen, weiterentwickelt. „Am Anfang habe ich während der Vorlesung schon ganz viel auf die Booklet-Seite geschrieben – alles, was möglicherweise wichtig sein könnte. Irgendwann bin ich dazu übergegangen, mir erstmal das Video in Ruhe anzusehen und dann im Anschluss geordnet die wichtigsten Informationen und Zusammenhänge auf der Booklet-Seite aufzuschreiben.“
Lina Steger gestaltet ihre Booklet-Seiten etwas anders. Sie studiert im vierten Semester „Angewandte Informatik“ im Bachelor und ist studentische Hilfskraft am Lehrstuhl von Professor Herrmann. „Ich umgehe das Prinzip des ‚Zusammenfassens‘ etwas, indem ich ganz klein schreibe und versuche, so viel wie nur irgendwie möglich auf das Blatt zu bekommen“, lacht sie. „Ich gehöre zu den Studierenden, die so viele Angebote wie möglich nutzen wollen. Es ist zwar anstrengend, aber ich lade konsequent jede Woche eine Seite hoch. Das hilft am Ende des Semesters dann doch sehr. Ich bin eh der Typ, der zum Lernen viele Zusammenfassungen schreibt und so habe ich das dann für dieses Fach schon erledigt.“ Außerdem gehe sie viel entspannter in die Klausur: Wenn sie etwas vergessen sollte, könne sie es ja im Booklet nachschlagen.
Die Nutzung des Tools sei unter ihren Kommiliton:innen sehr unterschiedlich, berichten die beiden Studentinnen. Es gebe viele, die die Booklets erstellen und sich nach Klausuren darüber austauschen, wie hilfreich es war und ob man die Lösung dieser oder jener Frage aufgeschrieben hatte. Es gebe aber auch einige, die das Booklet noch nie ausprobiert hätten.
Einschränkungen
Die Klausur muss für die zu schaffen sein, die kein Booklet angelegt haben. Zum anderen sollen es die leichter haben, die sich die Arbeit gemacht haben.
Das Booklet sei keine Voraussetzung, um seine Klausuren zu bestehen, betont Prof. Herrmann. Beim Erstellen der Klausuren bedenke er immer zwei Aspekte: Zum einen muss die Klausur auch für Studierende zu schaffen sein, die kein Booklet angelegt haben. Zum anderen möchte er es denen leichter machen, die sich die Arbeit gemacht haben. „Für manche Aufgaben müssen die Studierenden komplizierte Modelle kennen und anwenden. Und entweder haben sie diese Modelle dann im Booklet stehen oder sie müssen sie halt auswendig können“, erklärt Herrmann.
Auch wenn immer mehr Kolleg:innen das Booklet-Tool als sinnvolle Ergänzung sehen und einsetzen, ist Herrmann klar, dass es nur für ganz bestimmte Veranstaltungen eingesetzt werden kann. „Es passt für Vorlesungen mit Klausur. Dafür ist es gedacht. Für Seminare, Diskurse, Referate und Ähnliches passt es nicht.“ Auch der Einsatz für mündliche Prüfungen sei zumindest fraglich, sagt Herrmann. Für seine Vorlesungen habe er aber mit dem Booklet genau das richtige Tool gefunden.
Zur Autorin
Antonia Hildebrandt
Kommunikationsmanagerin
Antonia Hildebrandt ist Kommunikationsmanagerin der Stiftung Innovation in der Hochschullehre